TEXT ANDREAS WILINK
Weinen. Und Wimmern. Ein Schrei. Unmäßig. Die zwei Kinder, die eben noch munter tollten, sitzen auf der kleinen Veranda vor dem Pappmaché-Musterhaus – Prototyp und Katalog-Klischee eines Heims – und schauen betreten. Dazu ächzt im Düsseldorfer Schauspiel-Central ein Chor-Quartett ins Mikro und veranstaltet später schlabberigen Singsang, angezogen wie für die Samstagnacht in der Dorf-Disco. Am Sound-Pult macht jemand eine Art Musik, die zumeist klingt, als hätte das Elektrokabel einen Wackelkontakt.
Noch fehlt die Person zur Stimme des Schreies. Medea. Man ahnt ein verzerrtes, tränennasses Gesicht. Aber wenn Jana Schulz in der Tür erscheint, ist sie ganz gefasst und bei sich: Ruhig sein können oder ruhig sein müssen … Ist die von Jason Betrogene und Verlassene, die für ihn Greul begangen und ihre Heimat Kolchis verraten hat, die aus ihrem Exil von Korinths König verbannt werden soll, eine Extremistin? Oder wird sie ins Extrem getrieben? Jana Schulz reagiert mit somatischen Symptomen, krümmt sich, zuckt, reißt sich beim eigenen Schopf. Mehr vegetativ als psychologisch. Es ergibt wenig Sinn, der Medea des Euripides ein reales Flüchtlings-Schicksal anzudichten. Sie ist nicht von dieser Welt in ihrem Handeln wider die Vernunft und wider die Natur. Sie sagt es selbst: »Ich bin anders. Ich bin Medea.« Was hilft da der zivilisatorische Mehrwert, den der Grieche Jason für sie veranschlagt.
Der selten und auch in Düsseldorf wiederum wenig stilsichere Regisseur Roger Vontobel hätte enden können mit der Spieluhr, die – von Medea aufgezogen – Beethovens »Für Elise« langsam und immer langsamer in den Stillstand walzt. Dazu klafft das Haus mit seiner sich öffnenden Tür. Die beiden Söhne entfernen sich – von Medea, der Unbehausten, geschlachtet. Ein schönes stilles Bild metaphysischer Leere. Aber damit belässt man es hier nicht. Das Haus muss sich auf Muriel Gerstners Bühne noch mal drehen und seine schäbig abgeblätterte, zerfressene Gegenseite zeigen, wo auf der Fassade der Name der Göttin Hekate steht, die in der Mythologie die Schwelle zwischen den Welten verkörpert: Medeas Schutzheilige.
Wie so oft erstickt und erdrückt Roger Vontobels Konzepttheater das, was möglich und wesentlich wäre. Was für eine Medea hätte Jana Schulz, die neue Gertrud-Eysolt-Ring-Trägerin, sein können! Nun ist sie Kampfsport-Girl im Kapuzen-Shirt, Tod bringende Mädchen-Mutter und darin einen Moment lang ganz zart und weich, ist Tänzerin, die den von ihr verursachten Horror nightclubbt. Allein, selbst Jana Schulz kann den Abend nicht stemmen. Sie allein kann es nicht stemmen.