SPARBETRIEB
Tschechow I: »Der Kirschgarten« in Moers
Eiliges Einrichten. Zeit ist Geld. Damit’s schneller geht, wurden am Tischtuch die Teller und Tassen festgeklebt, die das Ensemble aufdeckt. Praktisch und sparsam. Das Rationalitätsprinzip durchkreuzt Traditionslinien. Tschechows »Kirschgarten«, mit dem das Schlosstheater Moers die Saison eröffnet und seine noch gerade so eben bewahrte Existenz beglaubigt, wird gelesen als Tragikomödie des Verschwindens, der falschen Geschwindigkeiten und der eingeforderten Effizienz.
Verschwinden soll der Kirschgarten, die Zier des tief verschuldeten Gutes der Ranewskaja, die mit Kind und Kegel aus Paris in ihre alte Heimat zurückkehrt, wo ihr Bruder das Elternhaus bestellt, und wo Lopachin, der Sohn Leibeigener, zu Wohlstand gekommen ist.
Ulrich Greb schaltet den Schnelldurchgang ein, zieht das Tempo hoch, forciert die Stimmung, die hysterisiert, aufgeputscht, angespitzt einen gemütvollen Tschechow-Ton vertreibt und die Seelenmusik übertönt, bis nur noch etwas Schnee aus der Tüte übrig ist und die Wunder der Liebe einzig als blöde Schlager erklingen. Fünf Schauspieler teilen sich, doppelt und dreifach besetzt, in die Rollen. Ohne den Wechsel groß kenntlich zu machen, gleiten sie von einer Figur in die nächste. Auch so lassen sich Sparauflagen für einen Bühnenbetrieb erfüllen – und karikieren. Tschechow als Kommentar zur Krise. Es funktioniert trotzdem. Zum einen könnte es den Anschein haben, als seien die Paris-Rückkehrer nur Wunschphantasie der daheim Sitzenden; zum anderen lösen sich so die Dialoge von den fest umrissenen Charakteren und kursieren als Diskursmasse im Raum.
Greb lässt nicht locker. Seine Inszenierung vertritt ein Prinzip: gegen Profit, Spekulation, Kosten-Nutzenrechnung und die Freiheiten des Marktes. In der angespannten Atmosphäre setzt es Ohrfeigen, Küsse verbeißen sich, Ideale stehen nicht hoch in Kurs, feine Manieren haben abgewirtschaftet. Und die Axt im Haus erspart den Klavierstimmer. Das Instrument als Relikt und Insignie bürgerlicher Gesittung wird von Lopachin, dem Vertreter der neuen Klasse, mit Berserkerkraft kurz- und klein gehauen. Grobe Klötze. Kulturkahlschlag. | AWI
HERBSTSONATE
Tschechow II: »Die Möwe« in Düsseldorf
»Wir brauchen neue Formen!«, fordert der jugendliche Dramatiker-Rebell Kostja, bevor er die Debütantin Nina auf die improvisierte Seebühne schickt, um sie seinen sperrig verstiegenen Theater-Monolog sprechen zu lassen. Eine programmatische Aussage, von den Theatern gern für diverse Aufbrüche benutzt. Das Düsseldorfer Schauspielhaus ist gewissermaßen gezwungen, nach neuen Formen zu suchen, die sich zunächst auf räumliche Verhältnisse beziehen. Das Große Haus am Gründgens-Platz wird saniert; in der Zwischenzeit wandert man aus – dorthin, wo ohnehin Mobilität Usus ist: in Hauptbahnhofsnähe. In der alten Paketpost zwischen Gleisanlagen und Bus-Terminal, dem »Central«, lässt sich jetzt auch groß Theater spielen. Zum Auftakt: Tschechow.
Amélie Niermeyer bedient sich weiterer Zitate und Hinweise aus dem Stück. »Ohne Theater geht es nicht«, sagt Sorin, älterer Bruder der berühmten Schauspielerin Arkadina, die zur Sommerfrische heimkehrt in ihr Gutshaus auf dem Land. Ein riesiger blauer Vorhang trennt Zuschauerpodium und Bühnenbereich: Öffnet er sich, wird eine von Lichtschneisen schraffierte leere Spielfläche sichtbar, die zusammen mit der Tribüne das Rechteck dieses mächtigen schwarzen Raumkartons bildet. Die Aufführung – überdeutlich und outriert mitteilungsbedürftig in jede ihre Zeichensetzungen – strapaziert die Theatermetapher. Ständig wird der Vorhang auf der Drehbühne auf- oder zugezogen; im letzten Akt ist er dann beiseite gelegt und zusammengerollt. Auch der Laufsteg, auf dem anfangs Nina zu knarzendem Cello, unter welkem Blattpapier-Regen und künstlichem Nebel ihr rührend ungelenkes Solo gibt, bleibt während drei Stunden Requisit, bis seine Planken zum Podest gestapelt werden, auf dem sich die zuvor weit verstreut sitzenden Personen drängen. Und wenn sich zuletzt Nina und Kostja noch einmal treffen, bevor sie ihrer traurigen Künstlerexistenz folgt und er seine Manuskripte ertränkt und sich erschießt, schauen die anderen als imaginäres Publikum zu. Das Theater ist ihre Welt, aber die Welt kein Theater, sondern realer Schauplatz.
Bei Tschechow lieben alle aneinander vorbei. In Düsseldorf spielen alle aneinander vorbei – auf unterschiedlichem Niveau. Wären nur alle so originell wie Fritz Schediwy als Sorin mit seinen wunderbar raumgreifenden Manierismen: ein Mann, der so viel wollte in seinem Leben und nichts davon eingelöst hat. Auf der konträren Seite der Skala rangiert Götz Schulte als Trigorin, der verknautscht und mit albernem Hütchen nicht einen wahrhaftigen Satz von sich gibt. Maria Schrader macht sich als Arkadina mit ihren Allüren, Zärtlichkeits-Attacken und einer sportiven Elastizität fit für das Match, das bei ihr Leben heißt und ein Spiel ohne Grenzen ist, das ans Limit ihrer eigenen Schwäche und Unsicherheit gerät.
Niermeyers Herbstsonate will permanent, statt einfach zu ein, etwas bedeuten, behaupten, beweisen. »Die Möwe« unter Druck. Die Charaktere bleiben, noch in Ausbrüchen und Verzweiflungstaten, ihrem Erkenntnisdrang und gegen sich selbst gerichteten Radikalismus, unscharf. Immer berechenbar: kalkulierte Gefühle. | AWI
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
DEBATTEN-KULTUR
»Othello« in Mönchengladbach
Ein Name schwirrt in der Pause durchs Foyer: Sarrazin. Der Abend, mit dem der neue Schauspieldirektor Matthias Gehrt am Theater Krefeld/Mönchengladbach seinen Einstand gibt, erzählt von einem »abartigen Fremden«, dem allerlei Minderwertiges »im Blut liegt«. Shakespeares »Othello« trifft das Publikum im Herbst 2010 mit einer Aktualität, die sich so gar nicht hätte planen lassen. Die sehr alltagsnahe Übersetzung von Heinz Oliver Karbus unterstreicht dies noch, und der Regisseur zeigt die Figuren wie in einer Versuchsanordnung: Othello wurde eine schwarze Maske aufs Gesicht gemalt, die anderen sind kalkweiß geschminkt.
Das soziale Lehrstück »Othello« funktioniert mustergültig klar – die menschliche Tragödie dahinter bleibt hingegen schwach an diesem Abend. Die Figuren erscheinen undurchschaubar hinter ihrer Theaterschminke. Dass Othello wehrlos wird nicht nur, weil er schwarz ist, sondern weil sein unbändiges Gefühl stärker ist, als er selbst, lässt Daniel Minetti in der Titelrolle kaum je durchblicken. Auch was Jago eigentlich treibt, kann doch nicht nur die souverän kalkulierende Taktik sein, die Bruno Winzen, oft im direkten Dialog mit dem Publikum, ausspielt. Geschickt erschließen Regisseur Gehrt und seine Bühnenbildnerin Gabriele Trinczek den nicht eben schauspielfreundlichen Raum in der Ausweichspielstätte des Theaters im Mönchenglad-bacher Nordpark von allen Seiten und über einen Steg in den Zuschauerraum hinein. Langweilig wird es nicht. Aber diesem »Othello« fehlt die Leidenschaft des Unbedingten – in der Liebe, die in Eifersucht umschlägt, und genauso in der kalten Zerstörungslust. Am Ende liegt eine tote Frau auf dem Bett, Kollateralschaden einer Intrige – kein Weltuntergang.
Der neue Schauspielchef und das aus neuen und alten Gesichtern gemischte Ensemble – sie haben Potenzial. Zu hoffen ist, dass sie es schärfer profilieren und tiefer ausloten werden. | UGO