FÜLLE DER LEERE
»Faust« am Schauspiel Bochum
»Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es muss Euch glücken«, meint zynisch-praktisch der Direktor im »Vorspiel auf dem Theater«. In Mahir Günsirays »Faust«-Inszenierung ist dieser Satz zwar gestrichen, doch folgt der türkische Regisseur dem Rat getreulich: Er hat, so könnte man Goethes Essensmetapher mephistophelisch böse ethnisieren, alle zwei Teile des Riesenstücks zerhackt, zermengt und zu einem »Faust«-Döner gegrillt, von dem er uns auf der Bühne des Bochumer Schauspielhauses Scheibe um Scheibe schabt. Zwar lässt diese Methode das ursprüngliche Tier kaum noch erkennen, das »Ragout« aber präsentiert sich gut gewürzt und schmeckt auf andere Art. Döner hin oder her, dies ist ziemlich gutes Theater.
Wer »Faust« nicht kennt, versteht jedoch vermutlich wenig: Es gibt keine volle Figur, keine Problematik. Dafür viele kleine Einfälle sowie eine starke Gesamt-Situation: In einem Auerbachkeller-Hexenküchen-Studierzimmer-Blocksbergs-Lebensraum treibt ein Faust (Andreas Grothgar) durch die Masse von acht höchst wandelbaren Mephistophelenen, deren Traumausgeburt er sein könnte – kein Gottvater nirgends, der geordneten Tag verspräche. Auf dem Boden nach Abgrund riechender Mulch; darauf Geklapper, Gelaufe, Geraufe. Es waltet irgendein Irresein mit Methode. Daraus schält sich urplötzlich ein Gretchen heraus (Therese Dörr), wird stark – und innig verhöhnt von acht teuflischen Äffern im Brautkleid. Ein Höhepunkt. Teil zwei zeigt sogar ein ganzes Stück vom Tier: Faust als Macher (Kanalbau, Philemon-Ermordung), wobei die Teufel assistieren; Faust als Familienvater (mit Helena und Söhnchen Euphorion), was die Teufel zu verhöhnen wissen. Vor allem aber schenkt uns die Inszenierung jetzt das außerordentlich putzige Homunculinchen (Xenia Snagowski), das mit ganz wenig »Ich schwebe so von Stell’ zu Stelle« und viel zart-witzigem Spiel eine große Präsenz entfaltet. Das ist überhaupt der Verdienst des Abends: große (Spiel-)Variation über kleinem (Text-)Thema. Viel Erlebnis also; und keine Erlösung: Das letzte Wort darf Mephistos Lob des »Ewig-Leeren« sein. | UDE
FAHRENDES VOLK
Tschechow I: Karin Henkel inszeniert in Köln den »Kirschgarten«
Wenn jetzt, nachdem der nutzlose Kirschgarten verkauft und das verschuldete Anwesen von dem ehemaligen Knecht Lopachin ersteigert ist, Ljubow Andrejewna mit den Ihren wieder nach Paris abreist – es ist das Jahr 1903 –, könnte die das Geld verjubelnde Russin zum Modell Picassos am Übergang von dessen Blauer zur Rosa Periode werden. Karin Henkel macht die bürgerliche Gutsherren-Klasse zu fahrendem Volk: Seiltänzer des Lebens, die Artisten unter der Lichterkuppel – ratlos. Mit den Clowns kommen die Tränen des Abschieds von Gestern.
Kölns Schauspielhaus-Bühne (Kathrin Frosch) zeigt eine leere Manege, dick bestreut mit Erde und ausgestattet nur mit einem Karussell-Plafond. Dort dreht und dreht und spreizt sich die Heimkehrerin Ljubow wie eine Spieldosenfiguren, und zwei Musiker benutzen ihn als Podest, um den blinkenden Rummelplatz der Gefühle zu befeuern. Aber aus dem Boden ragen auch einige Grabhügel: Mahnmale, Erinnerungsspuren.
Diese (bei Lena Schwarz eigentlich noch viel zu junge) Ljubow ist ein schönes Gespenst, das nach Leben lechzt und nach Liebe (und sei es bei dem kalten, zynischen Domestiken Jascha des Maik Solbach), vielleicht weil es den Tod gesehen hat. Um sie herum Treibgut wie ihr Luftikus-Bruder Gajew (Matthias Bundschuh), Künstler ohne Werk, Spielkinder, die der Zeit mit Zirkusstückchen ein Schnippchen schlagen, die sich ablenken lassen, außer Façon geraten, nicht nur wegen ihrer bunt gewürfelten, die Epochen kreuzenden Kleider. Nichts passt mehr zusammen: wie bei der Gouvernante Charlotte, deren Glieder sich im Purzelbaum verbiegen und kaum mehr zurück zur natürlichen Passform finden.
So tanzen sie wild, wund und verweht, wie immer getanzt wurde, wenn eine Endzeit den Untergang ankündigt. Sie rennen hin und her, ziellos eilig, ohne Sinn und Zweck, die Parole vom »neuen Leben« als Lippenbekenntnis repetierend.
Und die anderen, die Gegenwelt? Lopachin, der Bauer, Aufsteiger und romantische Materialist (Charly Hübner), der seiner alten Herrschaft Verantwortungslosigkeit vorhält wie ein Politprofi, aber selbst es nicht schafft, der Frau, die er liebt, das entscheidende Wort zu sagen? Trofimow (Jan-Peter Kampwirth), der ewige Student, dem die Liebe zu banal ist und der lieber mit schiefem Grinsen Augenblicke sammelt? Anton Tschechow macht keinen Unterschied zwischen seinen Möglichkeitsmenschen und Wirklichkeitsmenschen. Ebenso betrachtet es Karin Henkels Inszenierung und das ganz vorzügliche Kölner Ensemble, das sich während zwei Stunden in die Auflösung steigert, das Fragmentarische gegen das Vollendete ausspielt, das Melancholisch-Seelenvolle überschminkt und mit Taschenspieler-Sensationen vom Ruin ablenkt. Die einen amüsieren sich ins falsche Leben hinein, die anderen versäumen das Leben auf ideelle oder reelle Weise. Selbstbetrug ist es so oder so. | AWI
DIE ZEIT MACHT ZICKEN
Tschechow II: Peter Carp inszeniert in Oberhausen »Drei Schwestern«
So wie Intendant Peter Carp seinen Tschechow inszeniert, müsste er weniger »Drei Schwestern«, sondern könnte eher »Die Schwägerin« heißen. Denn die Aufmerksamkeit richtet sich, zumal im dritten und vierten Akt, auf die von Bruder Andrej (Martin Hohner) voreilig geehelichte Natalia (Nora Buzalka), die sich zu einem Boxenluder und Verona Pooth-Verschnitt mausert, das Haus okkupiert und mit mondänen Umbaumaßnahmen aufrüstet. Dafür werden riesige Vitrinenschränke verschoben und gestylt, Wände beklebt und Tapeten abgerissen.
Auflösungserscheinungen, die das Hergebrachte dem seelenlos Modernen preisgeben. Früher war alles besser. Oder, um es mit einer »Höhner«-Songzeile zu sagen, die in Oberhausen dröhnend das Drama rahmt: »Nä, wat wor dat denn fröher en superjeile Zick«. Dazu tollen die Schwestern Olga, Mascha und Irina (Anja Schweitzer, Manja Kuhl, Angela Falkenhan) über die Bühne, die Kaspar Zwimpfer hübsch-hässlich im Wartestand eingerichtet hat. Zustandsbeschreibung für gesellige Isolationisten, platziert im Vorraum des Lebens und in einer vielleicht bei 1960 eingerasteten Vorzeit, die sich mit allerlei Rückschritten und Vorgriffen zum Überall-Ort verallgemeinert.
Diese Gesellschaft – »nicht geschaffen, um glücklich zu sein« – wird von den Darstellern geschärft, individualisiert und mit Eigenschaften und Finessen ausgestattet, so dass das Ensemble manch einem größeren und besser ausgepolsterten Theater der Region den Rang abläuft. Man ist anfällig und empfindlich für alles Störende, was der andere Mensch so mit sich bringt. Zugleich scheinen die Figuren von einer milderen Form des Autismus befallen und finden nur mal in intimen Dialogen oder mit sich allein zu Empathie.
Der zunehmend inneren wie äußeren Verwahrlosung, Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung, der auch der Aufruf für das sinnstiftende Zukunftsprojekt »Arbeit« zum Opfer fällt, springt die Regie mit bohrenden Inszenierungsideen bei. Wobei besonders unser Hören in Mitleidenschaft gerät. Den sich ergießenden akustischen Müll aber ist man weniger gewillt, als kritische Masse und Zeitsymptom zu nehmen, als ihn in seiner Penetranz Peter Carp anzulasten. Am Ende schrillen Handys, die Schwestern hocken in Callcenter-Zellen, um ein »Schöner leben« zu bewerben. Diese Perspektive sollte man sich sparen. | AWI
GRÜNDE UND ABGRÜNDE
WAS MACHT EIGENTLICH DAS DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS?
Das Theater hat seine Mitte an die Randzone verloren und diese zum Central ausgerufen, der aufwändig hergerichteten Probe- und Nebenbühne des Düsseldorfer Schauspielhauses nahe beim Hauptbahnhof und Multiplexkino, derweil das Stammhaus eine der vielen Baugruben der Landeshauptstadt um eine weitere Leerstelle ausfüllt. Es ist die fünfte und letzte Spielzeit der Intendantin Amélie Niermeyer, bevor sie sich verabschiedet, um in Salzburg professoral Schauspiel zu lehren. Nun gilt der Österreicher an sich ja als Übertreibungskünstler – und wäre damit ein Fall für die »Pseudologia Phantastica«. Was wiederum eine altdeutsche Angelegenheit ist. Gleich davon mehr.
»Wir hier drinnen, Ihr da draußen«, lautet das aktuelle Saison-Motto. Darin steckt schon die Möglichkeit der verschobenen Wahrnehmung, wenn nicht optischer Täuschung. Der Apparat denkt, und der Zuschauer wundert sich über die Differenz zwischen Absicht und Ergebnis. Theater als Phantasie-Produkt seiner Macher – eine Düsseldorfer Spezialität dieser Tage.
Da die Zeiten territorialer Eroberungen in Europa passé sind, darf sich Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen mit Kunst statt mit Krieg befassen. Der Abenteurer ist von Instinkt und Anlage her ohnehin kein Machtmensch, sondern Künstlernatur. Dies mag Antrieb sein, ihn lokal zu verorten und bei seiner musikalischen Reise bis zum Mond einzugemeinden. Als Reiseleiter fungieren Niklaus Helbling, Eva Jantschitsch und Dirk Thiele. Beginnend wie eine närrische Prunksitzung (was die historischen Kostüm-Uniformen verursachen) und endend mit der Konfetti-Kanone, soll es zwischendurch so lustig zugehen, wie viele Rheinländer glauben, dass Karneval sei. Sechs Münchhausens (fünf männlich, einer weiblich) stehen für des Barons multiple Persönlichkeit.
Nach Erledigung diverser Stationen (Polen, Russland, Dinkelsbühl) befinden wir uns unerwartet im Jahr 1944 bei einem Flugzeugabsturz über der Krim. Dabei fallen Worte wie Tataren, Filz, Fett, Hase, Kojote, Wärmespender. Ein Hut wird aufgesetzt, ein junger Mensch »Herr B« genannt. Aus einem außerhalb der Dramaturgie unauffindbaren Grund kommen Joseph Beuys, eine Fluxus-Aktion (wurde eigentlich Eva Beuys unterrichtet?), Martin Kippenberger, Kunstakademie und Ratinger Hof ins Spiel. Aber außer einem Verkleidungswitz passiert nicht viel. Zu erzählen hat der Abend nichts. Von Beuys nicht. Auch von Münchhausen nicht – da hatte der UFA-Hans Albers mehr Eigenschaften. Zwischen die Best-of-Flunkereien und das Heimspiel, bei dem sich die Bühne als Filiale von Kunstverein oder Kunstsammlung ausgibt (um Beuys allerdings eher der Belustigung preiszugeben), wird Neues aus der Anstalt eingeschoben. Die Münchhausens dilettieren als kindische Patienten, auf die sich der klinische Terminus »Pseudologia Phantastica« anwenden lässt, und ziehen eine Hasen-Show ab.
Tierisch geht’s weiter. Ibsens »Wildente« im Kleinen Haus – Regie: Daniela Löffner. Nach brav-behäbigem Auftakt, der die Lebenslüge im Hause Ekdal in Sperrholz einlaubsägt, gerät das Ganze außer sich – der Phantasieraum des Ekdal-Dachbodens wird kurz und klein geschlagen, es fliegen Federn und Fetzen, spritzen Farben. Ein größeres Missverständnis von Körper-Theater, Entgrenzung und Entregelung, Chaos und Tollwut, also der am Gründgens-Platz grandios erprobten Gosch-Methode, kann es kaum geben als diese rührende Kindergeburtstags-Orgie mit Schmuddel-Schauspielern, die so tun, als ob sie sich vergäßen.
Wir bleiben, wo wir sind – und schauen zurück auf die rheinische Bundesrepublik. Eiszeit. Vakuum. Die Hotelgäste des Stefan Hofs in Königswinter sind eingeschneit. Wie draußen vor der Tür im Dezember. Drinnen taut Stephan Rottkamp das vor 35 Jahren uraufgeführte Stück »Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle« von Botho Strauß auf. Seltsam, wie fern all das scheint – die Bestandsaufnahme westdeutscher Bürger-Wirklichkeit, der Quer- und Durchschnitt von Angestelltenkultur, das repräsentative Mittelmaß von Biedermännern und -frauen. Am Ende ist eine der Figuren in der Kühltruhe gestorben: Opfer der Gruppe, die durch ihn um ihrem Bestand fürchten musste. Eine finstere Komödie der existenziellen Nichtigkeiten und Vernichtung, nicht nur zur Weihnachtszeit. 1975, so Strauß, sei die gesellschaftliche Utopie – kaum begonnen – schon schal geworden. Die historische Analyse des Scheiterns könnte sehr aktuell sein. Eine Entzauberung!
Drei Paare leben als Pensionäre in einem von Konkurs bedrohten Hotel. Kleine Welt als sarkastische Antwort auf Idee und Praxis der Kommune und des Kollektivs. In dem Museum der Leidenschaften wandern die Herzen untereinander von hier nach dort. Aber schlagen müde im Takt. Kommunikation hat sich abgeschaltet. Man lebt, sitzt, tanzt, spricht, liebt aneinander vorbei. In Düsseldorf hocken die Sieben zwischen Weiß (Schnee) und Rot (Vorhang) unter Perücken und Klamotten der Siebziger bis zur Unkenntlichkeit kenntlich gemacht als mumifizierte Sprechkörper. Automatenmenschen. Karikaturen. Verzerrungen. Rottkamp belässt die soziale Situation im Wachsfigurenkabinett. Das ist von Gestern.
Und noch ein Missverständnis, das größte: Büchners »Woyzeck«, musikalisch verfasst von Tom Waits, vor zehn Jahren für Bob Wilson. Da wird aus Mehr weniger. Das Drama verliert, wo es an Volumen – 18 trivial melancholische Softsongs – gewinnt. Seine Kälte und Härte weicht sentimental auf. Von Tina Lanik einfallslos in Frontstellung inszeniert – bisschen Jahrmarkt, Kasernenhof, Frankenstein, Peepshow – gleicht die Aufführung einer Exekution, bei der das Fallbeil erst beim dritten Schlag trifft. Die Bühne zeigt einen Riss in der Wand. Er müsste durch die Figuren gehen. Und so scheinen Abgründe in Düsseldorf nur beim U-Bahn-Bau zu gähnen. | AWI
SCHWÄRMER
Stefanie Thirschs neue Choreografie »As If (We Could Be)« in Köln
Eine Gruppe fischartiger Wesen ruht in Seitenlage am Boden. Einer springt elegant nach vorn, ein anderer hinterher. Weitere folgen, bis der ganze Schwarm sich ein paar Meter weiter bewegt hat.
Mimikry, die Fähigkeit des Lebewesens, nachzuahmen und sich anzupassen, ist in der Natur überlebenswichtig. In unserer Gesellschaft, ob in Europa, Asien, Afrika oder sonstwo, hat sie oft negative Folgen. Die international gefragte Choreografin Stephanie Thiersch und die Berliner Medienkünstlerin Angela Melitopoulos haben ein Jahr lang das Verhalten von Mensch und Tier in der Gruppe beobachtet. Gefilmt haben sie an der afrikanischen Küste und in Shanghai. Ergebnis ist eine so spannende wie stimmige »Tanzmontage«: »As if (we would be)«.
Die mausgraue Masse Mensch erlebt bei der Uraufführung im tanzhaus nrw in Düsseldorf eine erstaunliche Entwicklung. Vier Tänzerinnen und drei Tänzer halten sich zunächst gelangweilt in der nachgebauten Wartehalle eines Flughafens auf. Sie beobachten ihre Umgebung mit der gleichen Gelassenheit, Neugierde oder auch Skepsis wie die Chinesen auf den beiden Leinwänden, die rechts und links am Bühnenrand platziert sind. Wer sich nicht an die Ordnung hält, wird zum Außenseiter. So wie einer der Tänzer, der die Lethargie des Wartens überwindet und die Absperrungen niedertanzt.
Mit ruhiger, kraftvoller Hand zeichnet Thiersch wechselnde Bilder von Gleichschritt, Mobbing, Unterdrückung. Bis sich ein Tänzer zum Alphamännchen erklärt und die anderen mit Sätzen wie »Du bist allen überlegen« irritiert. Die Figuren wandeln sich vom Gruppenmitglied zum Individuum: Lächelnd bewegen sie sich wie auf dem Catwalk und legen ihre unauffällige Kluft ab, darunter kommt extravagante Mode zum Vorschein. Und dann führt Stefanie Thiersch schmunzelnd vor, dass auch Individualität sofort Nachahmer findet. | TROUW
19. und 20. Februar, Schauspiel Köln, Halle Kalk
BRENNEND KALT
Händels »Herkules« am Aalto-Theater
Zum Finale der Kulturhauptstadt wurde auf dem Förderturm der ehemaligen Zeche Nordstern in Gelsenkirchen die monumentale Herkules-Skulptur von Markus Lüpertz enthüllt. Dass ausgerechnet dieser mythische Held zum neuen Symbolträger des Reviers aufsteigen soll, ist seltsam genug. Denn das Ende des Halbgottes war grausam, wie man an der Aalto-Oper in Georg Friedrich Händels »Hercules« sehen kann.
Das Opus ist ein Zwitter aus Oper und Oratorium und als Spätwerk des Komponisten von ungewöhnlich dunklen Klängen. Geschildert wird die Leidensgeschichte der Titelfigur: Hercules kehrt nach Kriegen und kühnen Taten heim zur Gattin Dejanira. Die ist eifersüchtig auf Iole, sein schönes Beutestück. Um den vermeintlich Untreuen zurück zu gewinnen, lässt Dejanira ihm ein mit dem Blut eines Zentauren getränktes Gewand bringen, das die erkaltete Liebe neu entfachen soll. Doch der Liebeszauber birgt tödliche Rache: Das vergiftete Kleid frisst sich in des Mannes Fleisch. Hercules lässt sich bei lebendigem Leib verbrennen, um seine Pein zu beenden.
Ein erprobtes Team sorgt in Essen für die präzise und psychologisch plausible Verbindung von Musik und Bühne. Dietrich Hilsdorf breitet das barocke Eifersuchtsdrama als Sittengemälde aus, erzählt in überbordenden Chor-Tableaus viele kleine Geschichten und wechselt in scharfen Schnitten zu raffiniert ausgeklügelten Szenen einer erkalteten Ehe. Da stimmt jeder Blick, jede Geste – auch dank des exquisiten Sängerensembles mit Michaela Selinger (Dejanira) und Almas Svilpa (Hercules). Jos van Veldhoven am Pult der Essener Philharmoniker sorgt für historisch informierten, leicht aufgerauten, höchst differenzierten Klang. Parallel dazu erlaubt Dieter Richters klassizistisch inspirierter, morbider Einheitsraum eine Fülle geistreicher Verweise auf die Kunstgeschichte. Nun könnte gerade die szenische Üppigkeit als Indiz für langweiliges Rampentheater dienen. Doch bei Hilsdorf ist die Ausstattung atmosphärischer Katalysator für spielfreudiges, sinnlich hinreißendes Theater. | REM
ENTFESSELTE PRODUKTIVKRÄFTE
BONN Bizets »Carmen« in Bonn
Kaum ein Repertoire-Hit ist derart umstellt von Klischees wie Bizets »Carmen«. An der Bonner Oper wagt Florian Lutz die Verweigerung einer Bilderbuch-Spanien-Folklore und spielt allenfalls ironisch auf Lokalkolorit an. Stattdessen spitzt der junge Regisseur das Schauspiel der Leidenschaft auf originelle Weise politisch zu, indem aus Carmen eine Klassenkämpferin wird, die buchstäblich die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Wir erleben nicht die Männer mordende Femme fatale, sondern eine »Femme revoltée«, deren Prinzip Freiheit heißt, eine Anarchistin, die jede Form des Besitztums ablehnt, auch und vor allem in der Paarbeziehung.
In Jeans und Feinripp eckt die Arbeiterin Carmen nicht aus purer Streitlust mit einer Kollegin an, sondern lässt als Polit-Aktivistin nach der Zigarettenpause in der Fabrik einen Sprengsatz hochgehen, was zu ihrer Festnahme führt. Leibhaft hatte zuvor Karl Marx – augenzwinkernd – zum Thema Entfesselung der Produktivkräfte doziert. Im zweiten Akt mutiert der Autor des »Kommunistischen Manifests« zum Gastwirt Lillas Pastia und hämmert im Rhythmus der Kastagnetten auf eine rote Schreibmaschine ein.
Der Gefahr des schablonenhaften Lehrstücks entgeht die Bonner Inszenierung durch psychologische Präzision beim Liebesdrama und spritzige Ironie in den Massenszenen. Da gibt es dann effektvolle Action mit einstürzenden Mauern, Artisten, Fallschirm springendem Torero und einer Tafel nach dem Vorbild von Leonardos Abendmahl. Das spektakulär Wimmelnde und leicht Trashige der Aufführung trifft den fast boulevardesken Charakter der Opéra Comique verblüffend gut. Dazu passt, dass die Partien überwiegend leicht besetzt sind: Susanne Blattert präsentiert als Carmen einen hell timbrierten, gelenkig geführten Mezzo. Auch Jean-Noël Briend (Don José) setzt auf lyrische Stimmgebung, Mark Morouse zeigt einen stimmlich markanten, ohne Protzerei auskommenden Escamillo; und der Erste Kapellmeister Robin Engelen animiert das Beethovenorchester zu hoch energetischem Spiel. | REM