KÄSTCHENWAHL
Staffan Holms Düsseldorfer »Hamlet«
Alles Gold, was glänzt. Die Bühne von Bente Lykke Moller – ein matt gleißender Kasten – kann als Kommentar zur Landeshauptstadt mit ihren polierten Kö-Arkaden gelten, erweist aber zugleich der Beuys-Installation »Palazzo Regale« in der K20 Referenz. Aber luxuriös lässt sich nicht leben in der goldgehärteten Helsingör-Rüstung. Die Schauspieler müssen an der Wand lang und sich beim Rein-Raus durch zwei enge Ausgänge drücken. Kein repräsentatives Portal und sehr wirkungsfeindlich. So werden alle Neun zu Lückenfüllern. Ein Antiprogramm zum Pompösen und Zeremoniellen. Wie auch der stumme gestische Anfang dieser (den kriegerischen Konflikt ausblendenden) Familienaufstellung, wenn der Prinz und das Mädchen Ophelia sich im räumlichen Nichts treffen und mit eckigen Körpern ins Leere fühlen, als würden sie etwas abgreifen und abtasten und mit dem Pulsschlag ihrer Hände Begegnung, Berührung, Bedrohung ahnen. Dann steht übergriffig hinter Hamlet, dem versteiften Aleksandar Radenkovic, im schmiegsamen Schatten der Geist des toten Vaters mit krampfigen Fingern. Diesen Tic wird er in Gestalt des Claudius (beide der überragende Rainer Bock) behalten, aber bald zu beherrschen wissen.
Vieles bleibt unklar und ungenügend motiviert in Staffan Valdemar Holms gut dreistündigen Inszenierung, mehr arrangiert als zwingend gestaltet, seltsam in ihrer Konvention und bruchlosen Erzähllust und umspült von Songs der dänischen Soft-Punkrock-Band Sort Sol. Es gibt manch fehl geleiteten Witz, den man besser unter den Teppich kehrt, wie Hamlet die Leiche des Polonius, und fabrizierten Leerlauf, zumal im zweiten Teil, der seinen Stoff bloß abarbeitet bis zum zirzensisch ausgefochtenen Duell. Es geht Holm ums Herzeigen des Spiels, seiner Mittel, Manieren und Manien, Floskeln und Finten, auch wenn diese Passagen – ohne die Selbstreflexion konsequent zum Grundmodell zu machen – auf die Schauspieler-Szenen beschränkt sind, die ironisch, respektvoll oder beides »Tasso« und »Faust« zitieren – und Ingmar Bergman. Die Selbstrechfertigungs-Ansprache und Liebeskonfession des Theaterdirektors Oskar Ekdahl aus »Fanny und Alexander«, Bergmans spätem Familien-Epos über die heilsame Macht der Phantasie, die Tötung der bösen Geister, das Erbe der Kindheit und das Magische der Erotik – diese Rede wurde Marianne Hoika verordnet, wenn sie in der »Mausefalle« die Meucheltat des Claudius spiegelt.
So bleibt es im besten Fall Schauspieler-Theater. Imogen Kogge als Gertrud, toupierte Matrone und Eiserne Lady, rangiert mit hoher Büste, säuerliche Miene, robust, resolut, konziliant, auf vornehmerer Stufe als ihr Kleinbürgerkönig Claudius. Der Mindergatte rückt sich in seinen Anzug mit schiefer Schulter zurecht, unfein in Geldangelegenheiten und kaum passend für solch eine Dame, auch wenn schwofende Fleischeslust beide verbindet. Wie sich die Rollen bei den Eheleuten verschieben, die Herrin zur geisterhaft passiven, unterwürfigen Gefolgsfrau wird und der Emporkömmling zum Souverän mit brutalem Machtinstinkt und böser Beiläufigkeit: Das ist mit wenig Aufwand scharf konturiert und Herz der Aufführung, die hier Gertrud und Claudius heißt und nicht Hamlet. Der ist in unvergrübelter Verirrung auf einem schmalen Egotrip. Den Seins-Monolog spricht Radenkovic, frank und frei, einfach so weg und wie im Dialog mit Ophelia, als beträfe es Lebenspraktisches und nicht Existenzverunsicherung, bis er sich in eine frustrierte bis fanatisierte Ekstase wirft. Richtig passt das alles nicht zusammen: weder reines Kunstkabinett noch konkreter Ort, sowohl Psychologie als auch stilisierte Pathologie. Hier Ophelia, das verkantete Fräulein (Lea Draeger), das als staksender Tanz-Roboter endet; dort der Horatio des Markus Danzeisen, der als artifiziell verklemmter Gliedermann eine völlig andere Spielfarbe und Sprachform einbringt und das letzte Wort inmitten des allgemeinen Leichenfeldes erhält. | AWI
NICHTSCHWIMMER IM GENDERMEER
»Was ihr wollt« in Bochum
Die weitaus stärkste Szene steht am Anfang. Da lässt eine Hochzeitsparty ihre schwebende Heiterkeit über die Bühne des Bochumer Schauspielhauses ziehen, Feier der Vermählung einer Frau, die später Viola sein wird, mit einem Mann, der dann Antonio ist – eine Vermählung, die es nie geben wird. Doch, so als treibe wachsende Panik sie aus der Rolle, die sie ab jetzt zu spielen habe: als Ehefrau, als Frau überhaupt! Doch dann sprengt diese Braut die Feier mit dem Wasserschlauch. Gerät unter denselben und in die bald kniehoch aufgestiegenen Fluten, die sie um- und ihr mit dem Brautkleid auch die Geschlechtsidentität vom Leibe reißen (Bühne Claudia Rohner). Wenn die Sturzwasser sich gelegt, aber keineswegs verlaufen haben, ersteht diese Frau den Wellen als Mann: als die sich zu dem Jüngling Cesario verkleidete Viola, die knapp dem Schiffbruch entronnen ist, mit dem Shakespeare seine Komödie »Was ihr wollt« beginnen lässt. Diese Szene ist überaus stark, und stark ist auch Regisseur Roger Vontobels Konsequenz, das Spiel mit den Geschlechterrollen, das den Kern des Stücks ausmacht, als Verlust der Geschlechtsidentität zu begreifen. Dazu spielt Jana Schulz – ein bisschen der junge David Bowie, ein bisschen Tilda Swinton in »Orlando« – nicht nur die verkleidete Viola, die als Frau Herzog Orsino liebt und als Mann von der Gräfin Olivia begehrt wird, sondern auch ihren verschollenen geglaubten Zwillingsbruder Sebastian, der von Antonio homoerotisch umworben wird. Und Schulz spielt dieses Hinausgleiten in den Ozean des Transsexuellen so flirrend wie schmerzlich. Ihr, gemeinsam mit Katharina Linder (Olivia) und Michael Schütz (Orsino), gelingen berührende Stimmungen von feeling blue, von heiter aufgekräuselter Melancholie. Szenen, die ihren starken, harten Höhepunkt finden, wenn am Schluss Olivia-Sebastian-Cesario unter dem Chorruf aller: »Du sollst so sein, wie ich dich haben will!« zerbricht. Was Vontobel hier mit kundigen Händen aufbaut, schmeißt er jedoch mit dem Hintern immer wieder um: Die Späße von Sir Toby Rülp und Andrew Bleichenwang kommen über das, was Pubertierende im Schwimmbad machen, nicht hinaus, konturieren-kontrastieren nicht das liebesverwirrte Hauptgeschäft, lähmen schrecklich; bös-erhellender Humor geht heute anders als um 1600. So fehlt in dieser Inszenierung wieder einmal die Fast-Forward-Taste. | UDE
KARTHAGISCH
»Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« in Oberhausen
Vor dem dritten Punischen Krieg im zweiten Jahrhundert vor Christus forderte Romas Senator Cato Censorius am Schluss seiner Reden stets: »Carthaginem esse delendam« – Karthago müsse zerstört werden. Am Ende von Edward Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« ist die Zerstörung vollendet. Das Ehedrama – man kann auch sagen: Amerika Urdrama, denn die Hauptfiguren heißen George und Martha wie der erste US-Präsident Washington nebst Gattin – spielt in dem Universitätsstädtchen New Carthago. In einer taktisch brillant ausgefochtenen verbalen Schlacht wird ein System vernichtet. Wie jede gute militärische Operation folgen Feldherr George, Professor am Geschichts-Seminar, und Feldherrin Martha, Tochter des College-Dekans, dabei Regeln. Die beiden Triebtäter und ewigen Totengräber ihrer Liebe brauchen Gegner, Zeugen, Opfer, Stimualatoren – Mitspieler. Es sind zwei Newcomer. Sie heißen Nick und Honey und kommen um zwei Uhr morgens zu Besuch. Partytime. Das vielfach geübte Match beginnt. Die Runden werden angezählt und bis zum letzten Akt – einem symbolischen Ritualmord – durchgeführt.
Ein Kontrabass knarzt, auf einem Video nähert sich ein Paar einem neogotischen Haus-Portal, im Theater Oberhausen öffnet sich die Tür in einer Kulissen-Fassade, die auf der Drehbühne kreisen wird wie der Zeiger der Uhr und auf deren Rückseite sich ein voll gestelltes Wohnkabinett zeigt wie für eine Rauminstallation des Marcel Broodthaers. Das alles ist bei Peter Carp (Regie) und Caroline Forisch (Bühne) mehr Zutat als Zugewinn im Existenzspiel.
Der ausgerollte Teppich und der Stehtisch allein würden auch genügen, um auf und an ihm die Themen Alkohol, Sex, Geschlechterhass und Ursünde Familie auszuagieren. Über Polka und Cha Cha, einiges Po-Wackeln, in die Knie-Gehen und animalische Balz-Bräuche lässt sich hinwegsehen.
Martha schillert im Kleid, später trägt sie einen eng anliegenden Einteiler –Kampfanzug für den erotischen Clinch, wirft einen scharfen Schatten, fährt die Krallen aus und schafft sich ein nervöses Flirren: mehr Vivien Leigh als Muttertier Taylor. Aber Elisabeth Kopp fehlen Wucht, Angriffslust, böse Laune, süffige Gemeinheit und die rabiaten Kurmittel, mit denen sie ihre offenen Wunden zupflastert. Henry Meyer hingegen in seinem kalt ausgebrannten Wesen, halb Intellektueller, halb Clochard, ist mit überlegenem Spott und seiner unsentimentalen Selbstverhöhnung ein idealer George. Martin Hohner und Manja Kuhl tun ihr Bestes, um aus der vorgegebenen Statistenrolle – er der karrieregeile Bett-Hengst, sie das neurotische Doofchen aus der Häschenschule – einige Individualität zu ziehen. Albees Stück ist robust genug – unzerstörbarer als ganze Weltreiche. | AWI
SPRENGSÄTZE
Opern-Doppel mit Poulenc und Monteverdi in Aachen
Eine ungewöhnliche Kombination: Zwei einaktige Kurz-opern, die musikgeschichtlich kaum weiter voneinander entfernt sein könnten: Claudio Monteverdis szenisches Madrigal »Il combattimento di Tancredi e Clorinda« auf einen Ausschnitt von Torquato Tassos »Gerusalemme liberata« von 1624 und Francis Poulencs Monolog-Drama »La voix humaine« von 1959 nach Jean Cocteau. Beide Werke eint zumindest ihre für die Gattung Oper jeweils eigenwillige Form. Poulenc verhandelt das letzte Telefonat einer namenlosen Frau mit dem Mann, der sie verlassen hat. Monteverdis »Combattimento« ist ein Sonderfall, weil das vom Krieg überschattete tragische Geschehen um die unmögliche Liebe zwischen dem Kreuzritter Tancredi und der Sarazenin Clorinda, die sich bekämpfen und vernichten, dem Publikum von einem »Testo«, einem Erzähler vermittelt wird.
Piero Vinciguerras Aachener Bühne für Poulencs Drama zeigt einen weißen Dreiecks-Raum. Hohe Wände, schlichte Stuckumrahmung und ein leicht gewölbtes Dach aus mattem Glas erinnern an ein Hotelfoyer im Stil des Neoklassizismus; allerdings tropft irgendwo ein Wasserhahn in ein schäbiges Waschbecken. Fast eine Stunde dauert das quälende, immer wieder unterbrochene Telefonat. Paraderolle für eine starke Sänger-Darstellerin, hier verkörpert von der Bulgarin Irina Popova, die ihre existentielle Situation nie ins Sentimentale abdriften lässt. Die verschmierte Schminke, das zerwühlte Haar, das zerknautschte schwarze Kleid erzählen genug von einsamen Nächten. Popovas hell trimbrierter, kräftiger Sopran hat seine stärksten Momente in den lyrischen, die Liebe beschwörenden Passagen. Regisseur Alexander von Pfeil lässt das traurige Ende klugerweise offen: Als das Telefonat endet, und die Musik schweigt, stürzt die Frau hinaus, man hört noch ihre Schritte, dann schlägt schwer eine Tür zu.
Der Raum bleibt fast unverändert, als nach der Pause Monteverdis archaische Klänge ertönen. Diesmal liegt ein Paar innig verschlungen am Bühnenrand. Es sind die, die sich nicht lieben dürfen: Clorinda und Tancredi. Jemand stiehlt aus der Tasche der schlafenden Sarazenin einen Sprengsatz. Sie bemerkt den Diebstahl, verdächtigt den Ritter, steigt in seine Kleider und legt seine Sturmmaske an. Auf der Flucht wird sie gestellt; es folgt ihr Zweikampf, bei dem man nicht genau weiß, ob sie einander dabei wirklich erkennen. Und wieder setzt die Regie weniger auf dramatische Zuspitzung, sondern entschleunigt und konzentriert.
Kapellmeister Péter Halász, der eben noch Poulencs schillernden Ton traf, geht auch bei Monteverdi stilbewusst zu Werke. Das klein besetzte Ensemble klingt farbenreich, das junge Sängertrio singt klangschön und historisch informiert. | REM
QUADRATUR DES KREISES
VA Wölfl / NEUER TANZ mit »Short Cuts / Short Cats (Arbeitstitel)«
Arnold Schönbergs »Erwartung« wird vom Programmzettel des Abends annonciert. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass dieser die »No. 2« trägt, obwohl es der dritte und vorerst letzte Abend ist, an dem NEUER TANZ im White Cube des Marstall Schloss Benrath VA Wölfls neue Chor(e)ografie »Short Cuts / Short Cats (Arbeitstitel)« arrangiert. Als Uraufführung selbstverständlich, allerdings der Düsseldorfer Version, als variierende Wiederholung, die ohne Original auskommt. Soviel zur Inszenierung auf dem Programmzettel, der ernst genommen werden will. Vielleicht nicht unbedingt mit der Anmerkung, dass das Stück von der Londoner Messe für Waffen und Sicherheitstechnik gefördert worden sei, wohl aber mit dem Hinweis, dass das, was auf der Bühne geschieht oder eben nicht, zu Arnold Schönbergs Monodrama »Erwartung« eine enge Verbindung unterhält. In der »Version NEUER TANZ«, versteht sich. Neu arrangiert für 32 rotierende Gewehre, 9 Tänzer, eine Peitsche, einen raschelnden Anzug mit und ziemlich viele E-Gitarren ohne Verstärker. Auf die musikalische Umsetzung einzugehen, ist hier nicht der richtige Ort. Nur so viel: Es wird auch gesungen. Was dann geräuschlos folgt, »Die neue Schnelligkeit oder wir benehmen uns interessant«, darf als blitzsaubere Schönberg-Choreografie durchgehen. Da stehen die Tänzer von NEUER TANZ dann im halbdunklen Raum, vollführen in Zeitlupe minimalste Bewegungen, frieren Zitate des melodramatischen Bewegungsvokabulars ein, kippen chorisch und kerzengerade nach links und rechts, um dann und wann mit einem Fuß knirschend über den Boden zu scharren – so wie die Frau in Schönbergs »Erwartung« über die Leiche des von ihr gesuchten Geliebten stolpert. Vergessen werden darf nicht, dass das Rilke-Gedicht »Der Knabe« und ein paar Takte »We Will Rock You« von Queen zu Gehör gebracht werden, die Tänzer sich aber vorher umziehen. Und dass sich Nicholas Mansfield mit Klebestift, Papier und Schere erfolgreich an der Quadratur des Kreises versucht. Was das alles zu bedeuten hat, dazu dann vielleicht ein andermal mehr. Wölfls Werk rundet sich, ohne seine akkuraten Ecken zu verlieren. | ANK