TEXT: ULRICH DEUTER
Die Kommunen stehen am Abgrund – das war vor einem Monat an dieser Stelle zu lesen. Die Kräfte, die den Krater gerissen haben – das Wegbrechen der Einnahmen, die Explosion der Ausgaben –, sind tektonischer Natur: von den Betroffenen nicht zu kontrollieren. Die Kommunen stehen am Abgrund – aber viele von ihnen sind bereits einen Schritt weiter. Sie fallen. Die Städte und Kreise vom »Aktionsbündnis Raus aus den Schulden« (Ruhrgebiet und Bergisches Land) etwa haben ein Debit solchen Ausmaßes angehäuft, dass dessen Tilgung unmöglich ist. Weil sie nicht einfach wie eine bankrotte Firma ihren Betrieb einstellen können, müssen sie, um ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen, weitermachen: und zwar Schulden und wieder Schulden.
Seit der allmähliche Untergang der Städte medial wahrgenommen wird, weiß jeder, dass es kommunale Pflichtaufgaben und freiwillige Leistungen gibt. Zu letzteren zählt die Kultur. Also können die Städte gar nicht anders, als ihre Kultur zu reduzieren, meinen kühle Kommentatoren und öffentlichkeitsgierige Regierungspräsidenten. Der Kölner Kulturdezernent Georg Quander kalkuliert dagegen: »Wir rechnen für 2010 mit einer Deckungslücke von 550 Millionen Euro. Köln gibt im Jahr für seine freiwilligen Aufgaben gut 200 Millionen Euro aus. Würde man die komplett streichen und mit ihnen alle Kulturausgaben, würde das das bestehende Haushaltsproblem gerade zu einem Drittel lösen. Aber das Kulturleben wäre zu hundert Prozent vernichtet.«
Ist der Fall der Städte aufzuhalten? Ist zu verhindern, dass ihr Sturz Theater, Museen, Bibliotheken, Orchester mit sich reißt? Nach sorgfältiger Sichtung der Dinge kann die Antwort auf diese beiden Fragen nur ein Vielleicht sein. Kein Ja, nicht einmal ein Jein, weil die Kräfte, die bewegt werden müssten, geologisch – will sagen tief im gewachsenen politischen System der Bundesrepublik begründet sind. Berge versetzt niemand so leicht.
Die Handlungskonsequenz, die sich für die meisten der von K.WEST befragten Akteure aus Politik und Kultur in Stadt, Land und Bund aus dieser Mischlage von akuter Gefährdung und ferner Rettung ergibt, ist im Großen und Ganzen eine dito doppelte: Jetzt bewahren. Dann sanieren.
Um den Gemeinden dauerhaft tragfähigen Boden und die Füße zu stellen, müsste deren Einnahmesockel verfestigt werden. Aber ganz gleich, ob man ihren Anteil an der Mehrwertsteuer erhöht oder eine neue Kommunalsteuer mit eigenem Hebesatz erfindet: Unterm Strich müsste für die Städte und Kreise eine größere Zahl stehen – zu Lasten von Ländern oder Bund. Selbst wenn man nicht so weit geht wie der Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig, der das Verhältnis von jetzt 13 Prozent vom Steueraufkommen für die Städte und 43 Prozent für den Bund genau umkehren will, dürfte die Hoffnung auf christlich-großzügigen Berliner Verzicht zugunsten der Bettel-Städte illusorisch sein. Immerhin tagen seit März eine Gemeindefinanzkommission auf Bundes- und eine auf Landesebene, die sich mit der Kommunalnot befassen, und immerhin hat NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) zugesagt, dort »keiner Steuersenkung zustimmen, die dazu führt, dass bei den Kommunen Probleme entstehen.« Das aber heißt nur, dass der Wahlkämpfer Rüttgers zu verhindern verspricht, dass es noch schlimmer wird.
Solange ein neuer fester Finanzboden nicht erwachsen ist, müsste ein Rettungsseil den freien Fall der Kommunen bremsen – schreien diese de profundis und fordern vom Land einen Entschuldungsfonds. Der solle per Zins- und Tilgungshilfe binnen zehn Jahren die milliardengroßen kommunalen Kassenkredite zurückzahlen; Kosten für das Land: 800 Millionen Euro per annum. Antwort des NRW-Finanzministers Helmut Linssen (CDU) hierauf: nein. Schließlich sei der Hauptverursacher kommunaler Armut der Bund. Und außerdem müssten die Kommunen erst mal ihre strukturellen Haushaltsprobleme lösen: »Macht es Sinn, Luft in einen Reifen zu pumpen, der nicht richtig geflickt ist? Nein, das macht keinen Sinn!«
Das Argument, in den Kommunalhaushalten verstecke sich ein gewaltiges Einsparpotenzial, wird den Gemeinden vom Land immer wieder vorgehalten. Zu recht? »Ich muss mir nur die Zahl der Leute ansehen, mit denen eine Stadt dieselben Aufgaben erledigt. Da gibt es Riesendiskrepanzen«, antwortet Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU) auf die Bitte um Beweise für den Vorwurf kommunaler Misswirtschaft. Und fügt, seinen Schützling gegen Kämmerer und Regierungspräsidenten beschirmend, hinzu: »Da muss man ansetzen und nicht gleich über die Kultur herfallen, weil sie angeblich eine freiwillige Aufgabe sei.« Wie Teilnehmer berichten, hat Grosse-Brockhoff den Essener OB Reinhard Paß (SPD), der für die Kultur seiner Kulturhauptstadt amputatorische Sparmaßnahmen plant (s. K.WEST 04/ 2010), auf einer Sitzung der Ruhr.2010 coram publico zurechtgewiesen. Ein Ukas des Innenministeriums an die Regierungspräsidien, kulturvernichtende Sparvorschläge der unter Haushaltssicherung stehenden Kommunen unter Verweis auf Artikel 18 der Landesverfassung (Kulturauftrag für Land und Gemeinden) abzulehnen, ist allerdings nicht bekannt. Dennoch: Eine Studie von Bertelsmann-Stiftung und Deutschem Städte- und Gemeindebund kommt zum Ergebnis, dass der Schlüssel zur Konsolidierung der Gemeindefinanzen in einer Reform ihrer Verwaltungen liege. »In den 12.500 deutschen Kommunen mit rund eineinhalb Millionen Mitarbeitern wird in der Verwaltung 12.500mal dasselbe getan!« Die Lösung laute »Dienstleistungspartnerschaft«.
Dieser Begriff könnte auch über dem stehen, was der Ex-Bochumer (und jetzige Münchner) Kulturdezernent sowie Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages, Hans-Georg Küppers, für das so arme wie hochverdichtete Ruhrgebiet vorschlägt: »Schwerpunkte in den einzelnen Städten« zu setzen: hier im Tanz, dort in der Kunst usw. Solche »Cluster« könnten auch eine Qualitätssteigerung bedeuten. Sonst, sagt er, sehe er schwarz. Mut zur Veränderung vor allem in den Theatern (als den Hauptkostenverursachern) fordert auch der Direktor des NRW Kultursekretariats, Christian Esch: Mut zu Joint Ventures aller Art, Mut, auch die Veränderungsbremsen, etwa bei den Gewerkschaften, beim Namen zu nennen. Und nicht zuletzt Mut zu offensivem Dialog mit der Politik und zu Protest. »Aber leider ist in vielen Theatern eine Generation am Ruder, für die das Sicheinrichten selbstverständlich ist.« Hört man allerdings den geschäftsführenden Direktor des Deutschen Bühnenvereins, Rolf Bolwin, zum Thema, dann kann er schlüssig belegen, dass Theaterkooperationen finanzielle Nullsummenspiele sind. »Allenfalls Fusionen bringen etwas, unter besonderen Bedingungen. Und dies auch erst nach Jahren.« Fusionen aber will niemand. Bislang.
Dass Kooperationen nennenswerte Ersparnisse erzielen, ist allerdings tatsächlich unbewiesen, Zahlen über den »Gewinn« der letzten Koop zwischen den Bühnen Wuppertal und Gelsenkirchen existieren nicht. Gleichwohl, was ein Theater einsparen kann (ein Museum erst recht), sind, gemessen an den kommunalen Schulden, Peanuts. Und gemessen an dem, was anderswo ausgegeben wird, erst recht. »Wir haben die Not nicht, die derzeit suggeriert wird«, behauptet hingegen Oliver Keymis, kulturpolitischer Sprecher der Grünen im Landtag und dessen Vizepräsident. In der Tat, wenn die Krise der Kulturfinanzierung nicht doch irgendwann zur Schließung aller Institutionen führen soll, muss mehr Geld in die städtische Kultur. Die Grünen wie auch tendenziell der Städtetag NRW fordern daher eine »Kulturpauschale«. Darunter wird eine von Stadt zu Stadt verschieden hohe »pflichtige Pauschalsumme« verstanden, die den Kommunen auferlegt, das Zusatzgeld für Kultur zu verwenden, ihnen aber freistellt, wo und wie. Denn den Kommunen die Kultur zur Pflichtaufgabe zu stellen, das wollen weder Land noch Städtetag – aus Angst vor Nivellierung und Gestaltungsfreiheitsverlust. Die Summe, die Keymis vorschwebt, liegt bei knapp 690 Millionen Euro jährlich und speist sich aus einer zweiprozentigen Erhöhung des Steuerverbundbetrags, den NRW an seine Kommunen auszahlt.
Die Frage »Woher kommt dieses Geld?« führt unmittelbar zum wahren Kern des Problems. Der lautet: Welche Städte wollen wir? Agglomerate von Häusern wie in Main Street USA? Oder die europäische Polis mit einer wie auch immer gearteten Piazza in der Mitte? Braucht eine Stadt symbolische Orte oder nur ein gutes Straßennetz? Was ist zur Steigerung von Urbanität probater: eine U-Bahn oder eine lebendige Museumsszene? Ein neues Rathaus wie in Moers oder das dortige Schlosstheater? Kann sich Nordrhein-Westfalen leisten, dass Wuppertal zum Ghetto wird, weil Aktive und Gebildete aus der sozial und kulturell heruntergekommenen Stadt wegziehen? Es gibt keine Sachzwänge. Sondern nur den politischen Willen zu diesem – oder zu jenem. Dass die Politik ungeheure Summen generieren kann, zeigt nicht nur die Finanzkrise mit ihren Bankenrettungsmilliarden. Sondern auch so etwas wie der feste Vorsatz des 2005 frisch gewählten Ministerpräsidenten Rüttgers, den Kulturetat des Landes zu verdoppeln. Ganz einfach wurde dieser Vorsatz zur Tat. Die Frage ist doch: Sind 0,36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wirklich zu viel an Ausgaben für Kultur in einem Land mit unserer Tradition und unserem Selbstverständnis?
Und die Aussichten? Im Jahre 2010 werden die Kommunalschulden noch einmal milliardenhoch wachsen (allein drei Mrd. für die Schlaglöcherbeseitigung!). Die Sozialkosten werden auf lange Sicht immens bleiben. Das Schuldenverbot auf Bundes- und Landesebene (ab 2011) wird echte Hilfe für die Städte und Gemeinden von dieser Seite verhindern. Da der Abriss eines Theaters ein Bild ist, das jeder Politiker scheut, werden die Hüllen der Kulturhallen einstweilen stehen bleiben. Was innen geschieht, ist eine andere Frage. Von der Politik ist die Rettung der reichen Kultur unserer Städte nicht zu erwarten. Den einzig erfolgreichen Weg zeigt das Beispiel Köln: Da hat eine Bürgerbewegung den Abriss des Schauspielhauses gegen einen Ratsbeschluss verhindert. Bewahren, sich wehren ist das Gebot der Stunde.