»Zum Blauen Bock« steht in blauen Leuchtreklame-Lettern über dem verrammelten Eingang. Die Rollläden an Tür und Fenster sind schon lange heruntergelassen – eine geschlossene Kneipe mitten in Oberbilk, wo Eisen- und Stahlarbeiter einst Wohnung und Anstellung fanden. Hier ganz in der Nähe, wo Düsseldorf mehr Ruhrgebiet ist als Kö, wohnt Vera Vorneweg mit ihrem Mann, ebenfalls ein Künstler, und zwei Söhnen, 9 und 12 Jahre alt.
Und hier saß sie während der Corona-Pandemie und saugte auf, was um sie herum geschah. Sie lauschte, schaute, schnupperte – und schrieb es in ihr Heft, stundenlang. Sie feilte daheim an Worten und Sätzen und übertrug sie am Ende auf die geschlossenen Rollläden, die nun von oben bis unten voll sind mit ihrer winzigen, ordentlichen Schrift, mit ihren dem Alltag entrissenen Realitätsfetzen, die eine Collage eingefrorener Momente ergeben, ein Panoptikum der Gleichzeitigkeiten.
»Erneut ein Rettungswagen, diesmal von rechts, dicht gefolgt von einem Notarzt: die Stadt, und ihre Menschen und ihre Verletzlichkeit. Der Blinker-Blitz-Wink einer Frau mit rot-lackierten Fingernägeln und einem scheuen Mann als Adressat. Das zaghafte Drehen seines Kopfes und sein jetzt auf der Frauen-Erscheinung ruhender Blick.«
Vera Vorneweg war bereits ausgebildete Sozialarbeiterin mit einem unbefristeten Job in einer Beratungsstelle für Studierende mit Kind, als sie erst ein Zweitstudium der Philosophie anschloss und dann mit ihrem Job abschloss. Ein Schreib-Workshop im Studium ließ sie erkennen: Das ist es, was ich will, oder eher: Was ich muss. Sie kündigte mit 33 Jahren und begann zu schreiben. Seitdem hat sie damit einfach nicht mehr aufgehört. Eine Spätberufene – vermutlich deshalb nimmt sie ihre Entscheidung nun, da sie getroffen ist, umso ernster.
Es beginnt schon am Morgen. Bevor sie irgendetwas anderes tut, öffnet Vera Vorneweg ihr Notizbuch und schreibt eine halbe Stunde lang. So wie ein Pianist seine Fingerübungen absolviert, notiert sie Gedanken, öffnet sich und lässt das, was in ihr ist und hinauswill, über den Stift auf die Seiten gleiten.
Zum Treffen bringt Vera ihr Notizbuch mit. Es hat DIN A4-Format, ein hellblaues Einband und weiße Seiten ohne Linien. Es ist vollgeschrieben. Voll nicht in dem Sinne, dass auf jeder Seite etwas steht. Sondern so voll, dass kein einziges Wort mehr auf eine Seite passt, sobald Vera sie beschrieben hat. Mit ihrer geraden, ordentlichen Schreibschrift beginnt sie ganz links ganz oben und schreibt, eine imaginäre horizontale Linie haltend, bis exakt zum Seitenende und beginnt dann die nächste Zeile direkt unter der ersten. Absatzlos, absichtslos ist das Geschriebene. Keine Dramaturgie, keine Story, kein Plot. Keine Korrekturen.
»Texte werden sinnlicher, wenn man sie mit der Hand schreibt. Der ganze Körper ist dabei einbezogen. Beim Tippen zerhacke ich die Worte in einzelne Buchstaben, wogegen ich mit der Hand alles verbinde.«
Vera Vorneweg
»Eine mit dem Handy vor dem Gesicht gehende, die Straße überquerende Frau. Ihre Kameralinse, eine Taschenlampe und das grellweiße, allen Sitzenden entgegenleuchtende Licht, ein Stadt-Glühwürmchen.«
Viele Substantive, Verben nur im Partizip, kaum Adjektive: Für ihre Straßenprosa hat Vera Vorneweg eine Sprache gefunden, die den Lärm und die Hektik der Stadt einfriert und auf Distanz hält. Nichts wird kommentiert, es ist pures Schauen und Schildern. Doch der Versuch einer möglichst objektiven Ortsbeschreibung sind ihre Texte mitnichten: Das, was die Schwelle ihrer Wahrnehmung erreicht und tintenschwarz wieder herausfließt, ist natürlich höchst subjektiv. Es sind immer wieder die Menschen, auf die sich ihr Fokus richtet.
»Ein viel zu großes im Kinderwagen liegendes Kind, mit dem schwarzhaarigen Kopf zuerst aussteigen wollend, geschoben von einer dürren Mutter mit nervösem Blick.«
Die Sozialarbeiterin in sich kann Vera Vorneweg nicht verleugnen. Gerne lässt sie sich beim Schreiben ansprechen, in Gespräche verwickeln – beim meditativen Notieren ins Heft ebenso wie beim häufig fast gymnastischen Schreiben in den öffentlichen Raum. Sie schreibt auf Podesten, auf den Knien, auf dem Bauch, auf Wände, Bäume oder eben Rollläden. Einer Gruppe junger Syrer machte sie die große Freude, ihre Namen mitten in ihrem Text zu verewigen, integriert in deutsche Prosa.
Mit ihren ortsspezifischen Live-Writing-Performances, eigentlich ja eine pandemische Notlösung zu einer Zeit, da Lesungen ausfallen mussten, hat Vera Vorneweg einen Coup gelandet und bereits viele Nachfolge-Aufträge erhalten. Ihre literarische Street Art findet man inzwischen auch in Köln, Remscheid und Lüdenscheid. Dank einer Förderung der NRW-Kultursekretariate im Programm »Werkproben« kann man sie in den Jahren 2024 und 2025 sogar für eine solche Performance buchen – das Honorar wird vom Kultursekretariat aufgestockt.
Herzensangelegenheiten
Dabei ist Vera Vorneweg eigentlich keine Künstlerin für den schnellen Auftritt. Wenn sie sich auf einen Ort einlässt, dann nachhaltig und mit Zeit. Zeit sowohl fürs Aufsaugen ihrer Umgebung als auch fürs Zurückgeben. Sie überlegt sehr genau, welche Worte und Sätze das Recht haben, den öffentlichen Raum zu beanspruchen. Ihre Projekte sind Herzensangelegenheiten: Aus »Skottis Bar«, ihrem zweiten Straßenprosa-Ort in Oberbilk, machte sie einen Kunst-Kiosk, kuratiert dort inzwischen kleine Ausstellungen Konkreter Poesie und organisiert Lesungen.
Ihre aktuelle Arbeit am Düsseldorfer Stadtstrand brauchte gar mehrere Monate: Um die weibliche Perspektive auf Kriege sichtbar in die Welt zu tragen, beschrieb sie einen Container am Düsseldorfer Stadtstrand wochenlang mit Bertha von Suttners pazifistischem Roman »Die Waffen nieder«. Ein mönchsgleicher Akt, ein Street-Art-Denkmal für den Frieden. Es ist ihr wichtig, das Richtige nicht nur zu denken und zu schreiben, sondern es konsequent zu tun – egal ob es darum geht, Schriftstellerin zu werden oder eine syrische Familie aufzunehmen.
Seit sie 2018 entschied, das Schreiben zum Beruf zu machen, hat Vera Vorneweg eine beeindruckende Zahl an Stipendien und Preisen gewonnen, darunter Residenzen des Künstlerdorfs Schöppingen und des Goethe-Instituts in Tel Aviv, den Literaturförderpreis der Stadt Düsseldorf oder das Künstlerstipendium NRW. Nach einem Stipendium in Thüringen entstand auch ihre erste Veröffentlichung »Kein Wort zurück«, 2022 im Weimarer Wartburg-Verlag erschienen. Und auch hier siegte die Wahrhaftigkeit.
Als Dorfschreiberin wollte sie damals eigentlich den Menschen zuhören und ihre Geschichten aufschreiben. Doch es kam anders: Entsetzt von den rechten Auswüchsen im Landtagswahlkampf sah sie sich nicht mehr in der Lage, »eine schöne Geschichte« zu schreiben. Natürlich reagiert eine Schriftstellerin empfindlich, wenn Sprache missbraucht wird. Vera Vorneweg war im Wortsinn sprachlos, als sie Begriffe wie »Natur«, »Familie« oder »Heimat« auf Wahlplakaten rechter Parteien las. Kurzerhand schrieb sie ihre bereits begonnene Erzählung um. Ihr Erstling ist vordergründig noch immer ein Stück über die ländliche Heimat, hintergründig geht es jedoch um die Suche nach Sprache. Die richtige, nicht die rechte. Ihr Text wurde eine philosophische Studie über Semantik und Semiotik, angesiedelt zwischen Dorfplatz und Schlachtfest.
Inzwischen sitzt sie an ihrer nächsten längeren Arbeit. Ein Roman? Wieder eine Erzählung? »Ein experimenteller Text«, sagt sie. Und man darf sicher sein: Es wird richtig – gut.
Termine mit Vera Vorneweg:
1. Oktober, 16 bis 21 Uhr, Live-Writing-Performance, Ebertplatz Köln
3. Oktober, 15 bis 20 Uhr, Live-Writing-Performance am Tonhallenufer, Stadtstrand
Düsseldorf
19. Oktober, 19.30 Uhr, Lesung »Mischpoke« im »Zu Goldenen Hans«, Monheim (sojus.de)