// Karin Beier spannt »Das Goldene Vlies« in den Rahmen einer Alltagsgeschichte, freilich einer ungeheuren: Kolchis und Korinth als Metapher, Schauplätze für Menschen, die einander fremd geworden sind. In den Szenen einer Ehe und ihrem zwanghaften, zwangsläufigen Verlauf ist uns nichts unbekannt und dennoch nichts vertraut. Weil das, was sich die Handelnden zumuten, wie unter einem Vergrößerungsglas vor Augen führt, was zumeist hinter gesellschaftlichen Verabredungen und den guten Sitten verborgen liegt. Diese Menschen sind von allen guten Geistern verlassen. Auch hier regiert der Gott des Gemetzels.
Die imponierend kühne und karge Aneignung des Grillparzer-Dramas aus dem Geist eines Peter Brook enthält sich jeglicher Zutat, ist von äußerem Aufwand und Ablenkung (auch von Beiers gern aufschäumender Phantasie) gesäubert, drängt sich nie auf, konzentriert sich voll und ganz auf die nur vier Schauspieler, die – bis auf Maria Schrader als Medea – Doppelrollen übernehmen. Die dreistündige Inszenierung arbeitet prägnant mit Verweisen und Leitmotiven, Chiffren und Zeichen, die das Mythenmaterial zusammenfügen, es filtern, verdichten und eine unmittelbar wirkende Intensität und Intimität entwickeln: Play Bergman! Attention, Patrice Chéreau! Es ist – in ihrer Hochgespanntheit, souveränen Intelligenz, ästhetischen Stringenz und psychologischen Reife – überhaupt Beiers bislang beste Arbeit.
Das Sinnlich-Furiose ihres Theaters aber bleibt bewahrt in der radikal physischen Nähe, der Jens Kilians Bühne – schlichtes Spiel-Karree mit Sand bestreut oder mit einer glatten Oberfläche bespannt – Raum gibt. Die Vorgeschichte wird schnell erledigt und dabei zur Kenntlichkeit entstellt durch ovale kalkig weiße Masken, die die Figuren zunächst tragen, während ihre Körper in angedeutet abstrakten und rituellen Tanzbewegungen choreografiert sind. Die auf Pappe gemalten Gesichter zeigen ein Babyface für Medeas kleinen Bruder, den Kussmund der Prinzessin, die mürrisch herabgezogenen Mundwinkel des nach Besitz lüsternen und listigen Kolcher-Königs und den Gast-Feind mit schiefem Blick und gezackter Lippe. Auf die Ankunft dieses Griechen, Phryxus, in Kolchis folgt rasch dessen Ermordung durch Aietes samt Raub des Goldenen Vlieses, das als mürber goldgewirkter Seidenbrokatstoff an einer Fahnenstange hängt. Im Folgenden landet Iason, um sich die Reliquie wiederzuholen, was mit Hilfe der Medea gelingt, die Bruder und Vater, Heimat und Unschuld aus Liebe opfert und mit Iason fortgeht, von ihm zwei Söhne empfängt und in des Gatten griechischer Heimat verstoßen wird, worauf die Geächtete fürchterlich Rache nimmt.
»Es ist aus«, lautet die stehende Formel geendeter Liebe, die auch Iason gegen Medea wendet. Wie deren Beziehung im dritten Teil durchleuchtet wird, ist von erstaunlicher Modernität und Normalität. Da braucht es weder mythisches Gepräge noch aktualisierende politische Klügelei, mit der Regisseure schon mal Medea als Asylantin hinter Stacheldraht sperren. Aus der Keimzelle der Zweierbeziehung gebiert sich die Tragödie. Hier eine kleine Ungeduld, mit der jemand einen Menschen preisgibt, dort eine Gereiztheit, an der die Versöhnungsbereitschaft des anderen aufläuft und wiederum mit einem falschen Wort oder einer winzigen Geste von Ungehaltensein beantwortet wird.
Das Kölner Quartett ist grandios: Patrycia Ziolkowska spielt zunächst Absyrtus, Medeas Bruder, später die korinthische Rivalin, Kreons Tochter. Als Requisit dient ihr jeweils ein Cello – ihr Sprachorgan und erotisches Verführungsmittel. Wie sie den Korpus des Instruments umfasst, es wie besessen traktiert und sich so den eigenen Tod gewissermaßen vorspielt, erhält im dritten Teil seine Variation, wenn Kreusa das von Medea zertrümmerte Cello als Symbol kultivierter griechischer Überlegenheit in ihren Armen davonträgt wie den Leichnam eines Kindes. Bald schon werden die von der Mutter gemordeten Knaben in ihrem Blut liegen. Die Verwandlung in Kreusa schafft ein zivilisiertes Geschöpf, das in gönnerhafter Großmut die Kolcherin behandelt und sie die alte Volksweise »Ich hab die Nacht geträumet« lehren will.
Mit Iason verbindet Kreusa die Erfahrung gemeinsamer Jugend, die beide juchzend und tollend kurz aufleben lassen. In eine unmögliche zweite Unschuld zurück will dieser Iason. Carlo Ljubek zeigt ihn als in seinen Gefühlen unsteten, sich selbst ausweichenden, Widerständen nicht gewachsenen Mann, der sich seiner erotischen Wirkung weniger bewusst ist, als dass er diese impulsiv und instinktiv benutzt, und bei dem flaue Ich-Schwäche das Negativ aufbrausenden Wesens darstellt. Wenn er in einem Moment von Jähzorn Absyrtus domestizieren will, erleben wir das Horrorbild jener Familien-Katastrophen, die uns täglich als vermischte News berichtet werden. Kreusa hingegen weiß sich in der kommoden Mitte der Gesellschaft, ahnungslos gegenüber den Untiefen des Empfindens und gehätschelt vom Vater (Manfred Zapatka in der trockenen, engen und eckigen Würde seiner doppelten Königs-Rolle).
Die Erfahrung des Fremdseins muss die Andere, muss Medea aushalten. Maria Schrader tut das auf überwältigende Weise; reflektiert und klar von Verstand, hat sie sich in ihrer Gewalt und wird doch überwältigt. In einer Arena begegnet sie Iason zuerst und liefert sich mit ihm einen wilden Zweikampf, der herbes Begehren als Urgrund in sich trägt. Das »Märchen ihres Lebens« liest sie wie einen fremden Text und fühlt, obgleich nicht bös’ von Natur, »dass man’s werden kann«. Medea, in der ein großer schroffer Wille wohnt, legt einen langen Weg zur unsagbaren Mordtat zurück, gefasst und fassungslos zugleich, ganz bei sich und völlig außer sich. Einer Frau wie ihr zu begegnen, ist ein Schrecknis – und ein Privileg. Immer noch gilt: Das Monstrum ist der Ernstfall der Humanität.
www.schauspielkoeln.de