K.WEST: Werner Spies, Sie sind dem Jahrhundert-Künstler gegen Ende seines Lebens persönlich begegnet. Was haben die Begegnungen für Sie bewirkt und hinterlassen, was erinnern Sie besonders?
SPIES: Dass ich den alten Picasso mit diesen unerhört offenen, gleichzeitig erstaunten und geradezu erschrockenen Augen kennenlernen durfte und zudem die Möglichkeit erhielt, mit ihm zusammen etwas zu realisieren, was ihm wichtig war, nämlich das Verzeichnis seines Plastischen Werkes, bleibt für mich bis heute überaus stimulierend. Übrigens liebte er diese Art von Publikationen, bei der sie keine Auswahl treffen, sondern, ohne zwischen Haupt- und Nebenwerken zu unterscheiden, einfach alles gleichrangig abbilden. Auch in diesem Punkt treffen wir auf das Wesentliche: die Absage an das Psychologische, die Vorliebe zu variieren, von allen Dingen das Oben und das Unten zu sehen. Dabei schien ihn die Kunstgeschichte nur wenig zu interessieren, das Kunstwissenschaftliche, die Fakten jedoch sehr wohl. Was das Biografische, die Storys anging, so hielt er das alles für unwichtig und belanglos. Doch während wir uns daran machten, das Material durchzuschauen, erinnerte er sich plötzlich daran, wie er als Kind Tausende von Krippenfiguren modelliert hatte, wie er überhaupt an allem Taktilem, Handwerklichem interessiert war. Aus der Rückschau nehmen mich die Bilder, die sich mir von ihm eingeprägt haben, die Eindrücke von damals beinahe in die Pflicht zu fragen, wie dieser alte Mann, der damals schon der Mythos der Zeit war, mit seiner Todesangst fertig wurde. Die letzten Jahre Picassos waren doch realisierte, ins Werk umgeleitete Todesangst. Für mich war es etwas unerhört Bewegendes, zu wissen, dass ich hier einen Menschen vor mir hatte, der gewissermaßen über die Schwelle seines Lebens, des Lebens überhaupt getreten war.
K.WEST: Könnten Sie diese Wahrnehmung, bezogen auf seine Art, mit dem Alter umzugehen, noch exakter schildern?
SPIES: Als ich ihm erstmals gegenüberstand, gab es für mich überhaupt keine Vorstellung von Zeit und Alter. Ich erlebte eine mythische Präsenz. Alles, was ich von ihm wusste, alle Phasen seines Werks überblendeten sich. Vor mir stand ein Heros, der seinen unerhört intensiven, neugierigen Blick auf mich richtete. Wichtig wurde für mich dann die Entdeckung, dass es im Werk Picassos, zum Unterschied von dem, was man bei Renoir, Matisse oder Klee feststellen konnte, keinen Altersstil gab. Zumindest keinen, der mit den Kategorien physischen Nachlassens erklärt werden musste. Es wäre vermessen, über das Denken und die Spiritualität Picassos, die er auf grandiose Weise in seinen Bildern und Zeichnungen verschwiegen hat, zu diskutieren. Das einzige, was wir sehen und sagen dürfen: Es sind Darstellungen voller Schmerz und Leidenschaft. Erotisch, am Leben ist dieses Werk bis zum Tod. Mehr sollten wir nicht zu sagen wagen.
K.WEST: Weshalb haben Sie diesen Ausstellungstitel gewählt?
SPIES: Die Autonomie, die sich Picasso bis in seine letzten Tage hinein bewahrt hat, spüren die Menschen, die die Ausstellung »Malen gegen die Zeit« erleben. Der Titel verweist auf zweierlei, er meint zunächst: die Zeit festhalten, Anmalen gegen den eigenen Tod. Aus diesem Grund wirkt die Schau wie ein Manifest für die heutige Lebenswelt, in der die Menschen älter und älter werden. Picasso führt es vor: Es gibt keine Grenze für Aktivität, für Kreativität – und keine für Lust! Was mich beschäftigte, war die Beobachtung, dass Picasso auf verschiedenartige Weise die Zeit einsetzte.
K.WEST: Was macht den Unterschied aus zwischen dem Stil des Zeichners und dem des Malers mit Blick auf seinen Aufstand gegen das Alter?
SPIES: Picasso hat sich in den späten Jahren für ein Gemälde nicht mehr Zeit genommen als für eine Zeichnung. Die offenen Bilder ziehen eine Geschwindigkeit heran, die der eines Pollock oder der Maler des Action Painting in nichts nachsteht. Doch neben solchen Geschwindigkeitsüberschreitungen begegnen wir im kleineren Format, in den Zeichnungen und Druckgrafiken einer scharf gezeichneten Bildwelt. Das Quantum Zeit, auf das er zurückgreift, ermöglicht da das präzisere Resultat. »Malen gegen die Zeit« meint jedoch auch: Malen gegen den Zeitgeist.
K.WEST: Nun stellen Sie dem »wilden«, rastlosen Picasso den reflektierenden gegenüber. Ist das Reflektierende ein Korrektiv oder so etwas wie ein Einspruch gegenüber der Rastlosigkeit und Spontaneität?
SPIES: Ein unbändiger sinnlicher Erfindungsgeist steht gegen die sparsamen Gesten der konzeptuellen Kunst, die in fast allen Ateliers in Frankreich Oberwasser hatte. Duchamp wurde damals der Überfigur Picasso entgegengesetzt. Man brauchte die Verleugnung Picassos, um einer Lähmung zu entgehen. Das erklärt die grotesken, oft gemeinen Urteile, mit denen die Bilder der letzten Lebensjahre überschüttet wurden. Picasso war zum bestgehassten Künstler geworden. Die oft niederträchtige Rezeption, die wir im Katalog belegen, spiegelt dies wider. Eine Sondernummer der Zeitschrift »Arts« trägt 1966, im Jahr des 85. Geburtstages,eine Reihe negativer Stimmen zusammen. Pierre Restany deklariert: »Der Picasso von 1966 geht uns nichts mehr an, er gehört in die unmittelbare Vergangenheit unserer Kultur. Seine eigene Vitalität dreht sich im Kreis oder ist, wenn man so will, zu einem rein soziologischen Phänomen geworden: eine Handgelenksgymnastik, eingebettet in eine rigorose Lebenshygiene.« Auf all dies passt ein Urteil von Heinrich Heine, das die Angriffe auf den alten Goethe betrifft.
K.WEST: Und wie, bitte, erklärt sich Heine den Hass?
SPIES: Er gesteht für sich selbst, dass das Motiv des Hasses der Neid ist. Bei Picasso treffen wir letztlich nie auf Zweifel. Man könnte meinen, Skepsis und Reflexion hätten bei ihm keine Rolle gespielt. Und doch, welcher Künstler ist im konzeptuellen Bereich weiter gegangen als er. Picassos Rückzug aus dem Erfolg, zu dem ihn die Blaue und Rosa Periode schnell geführt hatten, verdankt man die größte Entscheidung in der Kunst des 20. Jahrhunderts, den Kubismus. Er bleibt die causa mentale der Moderne par excellence. Doch der Kubismus entstand nicht nach einem papierenen Konzept. Picasso fand zum Kubismus dank eines endlosen Durchkonjugierens von Formen. Von Anfang an, bereits in den Jugendjahren in Barcelona, spielt er die Aggregatzustände einer Form durch, tastet er Virtualitäten ab. Aus der Rückschau wollten wir sagen, der Künstler agierte wie ein Computer. Ihm ging es dabei nicht mehr um das definitive, das beste, das letzte Bild. Sondern um pure Kreativität, um die Verflüssigung der Bildvorstellungen.
K.WEST: Die letzte Ausstellung, die Sie in Düsseldorf realisierten, galt den Kinderbildern Picassos. Inwiefern stellt bei ihm, der sich so sehr mit der Kindheit befasste und im hohen Alter noch einmal Vater wurde, dieser Kinderwunsch eine Möglichkeit dar, sich des Kindes in sich immer wieder neu zu vergewissern?
SPIES: Ich werde den Eindruck nicht los, dass er die Nähe zu Kindern und deren Phantasie aufsucht, um gegen sein eigenes Altern anzukämpfen und um die Kreativität agil, kraftvoll, flexibel, offen zu halten. Er will sie mit Energie beleben und sich jene Vitalität bescheren, für die Kinder stehen.
K.WEST: Picasso wirkte selbst im hohen Alter nicht alt. Auf Fotos erscheint er wie ein dem Tod trotzender Kraftkerl.
SPIES: Für ihn war im Alter der Blick auf das Alter das Unerträglichste. Seine ganze Strategie des Arbeitens hatte damit zu tun. Sie hatte nur ein Ziel, ihm täglich, stündlich die Versicherung zu geben, dass er der verrinnenden Zeit widerstreben, sich ihr widersetzen könne. Er suchte nach Ewigkeit, insofern spielt das Kind im Spätwerk eine pathetische Rolle. Es erscheint als eine Art Erlöserfigur, in der Lage, die Zeit anzuhalten und ihm, auch im Werk, wieder die Kindheit zurückzubringen. Das sind möglicherweise Evidenzen, die man heranziehen und auch interpretieren kann – aber besser auf schlichte Weise und nicht zu pathetisch und auch nicht zu stark auf die individuelle Biografie bezogen.
K.WEST: Warum wollen Sie biografische Momente ausblenden? Gibt es wirklich keine lebensgeschichtlichen oder andere Erklärungen dafür, dass Picasso derart vehement gegen die Zeitlichkeit rebellierte?
SPIES: Ich blende sie nicht aus. Auch die letzte Periode, die die Ausstellung zeigt, lebt in einer biografisch begrenzten Sphäre. Der Künstler zieht sich definitiv zurück, nach Mougins, in sein Haus in NotreDame-de-Vie, das er kaum mehr verlässt. Es sind die Jahre mit Jacqueline, die er nach dem Tod seiner ersten Frau Olga nun heiraten kann. Eine neue Physiognomie und Physiologie zieht ins Werk ein. Er nennt Jacqueline »L’Espagnole«. Sie, die Spanierin passt zum Œuvre der letzten Jahre, in dem Picasso sein eigenes Werk rekapituliert und in seine eigene Vergangenheit zurückkehrt. Wir finden in den Bildern, Zeichnungen und grafischen Arbeiten zahlreiche Anspielungen auf spanische Erinnerungen. Die iberische Herkunft tritt in den Vordergrund. Nehmen wir die Mantel-und Degenstücke, die Musketiere – das bedeutet Rückkehr zu Kindheit und Jugend, zu einer spanischen Sensibilität, Intellektualität und Düsterheit. Auch der Vater, Don José, mit seinem Spitzbart, taucht ständig auf. Er findet in den Darstellungen, die Picasso von seinem Drucker Piero Crommelynck gibt, eine Art von Reinkarnation. Nur der Umstand, dass Franco weiterhin lebte, hinderte Picasso an der Heimkehr. Er litt sehr darunter. Er befand sich im Exil.
K.WEST: Lassen sich Spuren der verrinnenden Zeit in seinen Gemälden und Zeichnungen nachweisen?
SPIES: Es gibt eine Äußerung von Picasso selbst, die sich damit beschäftigt: »Ich habe den Eindruck, dass die Zeit immer schneller an mir vorüberzieht. Ich bin wie ein Fluss, der sich weiterwälzt und Bäume mit sich führt, die zu nahe an seinen Ufern wuchsen, oder tote Kälber, die man hineingeworfen hat, oder alle möglichen Mikroben, die ihn ihm gedeihen.« Am ehesten entdecken wir Picassos Blick auf die Zeit dort, wo er in den Spiegel schaut. Im Spätwerk tauchen immer wieder Szenen und Köpfe auf, die autobiografischen Charakter tragen. Hier finden wir aufgerissene Augen, die von Angst und Verwunderung sprechen. Picassos unendliche Produktion hat sich sonst kaum um den eigenen Körper und das eigene Gesicht gekümmert. Nach der Phase in Barcelona taucht das Selbstporträt kaum mehr auf. Das eigene Sein wird als definitiv betrachtet, es bleibt unwandelbar. Erst das hohe Alter schickt Picasso vor den Spiegel zurück. Darin sehe ich etwas Dramatisches, weniger im Dargestellten selbst, in dem, was Picasso vor dem Spiegel entdeckt, als in der Tatsache, dass er wie ein Dorian Gray zu sich selbst zurückkehren muss. Darin entdecken wir einen kapitalen Unterschied zum Verhalten Rembrandts, der sich gewissermaßen im Zeitfluss, im eigenen Verschwinden zeigt.
K.WEST: Gibt es weitere Entdeckungen, die Sie im Kontext der Ausstellung gemacht haben?
SPIES: Dass diese späten Arbeiten Gesetzen folgen. Eine Trennlinie scheidet das, was der Künstler in seinen strichsicheren Zeichnungen gibt, von dem, was in den offenen, wilden Bildern zustande kommt. Innerhalb jeder der beiden Gruppen entdecken wir eine stilistische Einheit. Der Malen-Zeichnen-Gegensatz ist so auffällig und folgenreich, dass man sich nach einer Erklärung umsieht. Radikale Geschwindigkeit steht gegen Genauigkeit. Spontane Individualität und Kunstgeschichte treffen aufeinander. Das Spätwerk zeigt, dass Picasso mehr als ein moderner Künstler sein wollte. Er begründet die regelmäßige Transgression einer Gewissheit folgendermaßen: »Was heute falsch ist an der modernen Kunst, und wir könnten ebenso gut sagen, was ihr Tod sein wird, ist die Tatsache, dass wir keine starke, mächtige akademische Kunst haben, gegen die zu kämpfen sich lohnt. Es muss eine Regel geben, selbst wenn es eine schlechte ist, denn die Macht der Kunst bestätigt sich in der Überwindung der Tabus. Beseitigung aller Hindernisse aber bedeutet nicht Freiheit, sondern Lizenzierung – eine fade Angelegenheit, die alles rückgratlos, formlos, sinnlos und nichtig macht.« //