Das biennale Festival Tanz NRW findet 2021 im digitalen Raum statt, der gerade für den Tanz ein Unort ist. Die Körperlosigkeit der Pixel, die digitale Entraumung – sie machen Tanz eigentlich unmöglich. Und doch überwinden zwei Produktionen am Eröffnungsabend alle Hürden und gelingen auch im Virtuellen, weil sie sich von der Bühne lösen, weil sie den Tanz transzendieren und dem Medium Sinnlichkeit abtrotzen.
Ab in die Wunderkammer!
Lässig lehnen Simon Hartmann und Daniel Ernesto Müller vor dem Eingang der Städtischen Galerie im Park Viersen an der Wand. Strahlender Sonnenschein. Müller blinzelt in Großaufnahme ins Licht. Hartmanns weiße Sneaker strahlen mit der Sonne um die Wette. Nur die Tonspur spielt nicht mit: Regen, Donnergrollen, pfeifender Wind.
2019 hatte das Düsseldorfer Performance-Duo Hartmannmueller das Stück »Die Schöpfung« am Tanzhaus NRW uraufgeführt. Für Tanz NRW 2021 haben sie in der Städtischen Galerie im Park eine barocke Wunderkammer eingerichtet: »Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung«. Nicht nur Kunst und Kurioses aus »Die Schöpfung« findet sich darin wieder, sondern auch Bilder aus »in noT« und anderen älteren Stücken. Sie nehmen die Besucher mit, öffnen die Tür zu ihrem Reich und vielleicht auch ihren Gehirnen, in denen so viel Rätselhaftes vor sich geht. Nichts wird erklärt, es gibt keine Führung durch die Sammlung, keinen Kommentar zu den Exponaten. Die Kamera folgt nur den beiden Menschen beim scheinbar unabsichtlichen Streifen durch das Arrangement. Müller wässert die Pflanzen im raumhohen Regal und färbt mit sprudelnden Tabletten Wasser grün und rot. Hartmann spielt zwischen langsam schmelzenden, von innen beleuchteten Eisblöcken Posaune. In einem Glaskolben strudelt es unaufhörlich und eine Linse wirft das Bild des Strudels riesengroß und auf dem Kopf stehend an die Wand. Videobildschirme zeigen Nacktschnecken in Nahaufnahme und Waldbrände. Von der Decke hängt ein Skelett mit einem Lautsprecher als Herz, aus dem fremde rituelle Gesänge tönen. Vielleicht doch mehr Panoptikum als Wunderkammer, wo die Schatten von Wurzelstöcken zu räselhaften Gebilden werden. Schönheit und Schrecken immer ganz nah beieinander. Der 15-minütige Film atmet den geheimnisvollen Charme, der Hartmannmueller ausmacht. Als würde eine Schublade mit verstaubten Mitbringseln und Fundstücken aus aller Welt geöffnet, mag es empfinden, wer »Die Schöpfung« gesehen hat. Und wem diese Erinnerungen fehlen? Dem bleibt nur, sich auf das große Rätsel einzulassen, in das ihn Hartmannmueller mitnehmen. Das Rätsel, das die Natur ist, genauso wie der Mensch in ihr.
Die Schönheit des Uneindeutigen
»Flounce Into Flounce« von Regisseur Seongmin Yuk ist ein Tanzfilm. Als solcher ist er per se schon für das Online-Streaming bestens geeignet, wenngleich er sicherlich auf großem Bildschirm oder raumfüllender Leinwand noch mehr Wirkung entfalten würde. Der englische Titel spielt mit der Doppeldeutigkeit: »Flounce« heißt Volant, aber auch ruckartige Bewegung. In der Choreografie von Maria Mercedes Flores Mujica bewegen sich Anastasia Kapanadze, Beomseok Jeong, Igor Meneses Sousa und Miriam Rick in einem Setting, das aus mehreren Lagen durchsichtiger Folienvorhänge besteht. Das reflektierende Licht, die mit jeder Lage abnehmende Durchlässigkeit und die Überlagerung von Bildebenen lassen die Körper mehr oder weniger ephemer erscheinen. Ohne sich je zu berühren oder in der Bewegung direkt zueinander Bezug zu nehmen, werden die vier Tänzer*innen allein durch die vertikale Struktur des Bildes, die von den Falten der Vorhänge gebildet wird, zu einer ästhetischen Einheit. Diese Faltenstruktur tritt in den Vordergrund, sie ist nicht mehr Dekoration, sie ist das Bild, das nur von den darin verschwimmende Schemen der Tänzer*innen belebt wird. »Flounce Into Flounce« ist ein rein ästhetisches Experiment auf hohem Niveau, das nicht Sinn, sondern pure Schönheit konstruiert. In diesem Sinne spielt der Film mit der Wahrnehmung des Betrachters wie es etwa auch die konkrete Kunst tut.
Eins, zwei, Polizei!
Die eigentliche Eröffnungspremiere stammt von Reut Shemesh. Bereits 2019 zeigte die Choreografin ihre Arbeit »Cobra Blonde« in Ausschnitten und damals noch als Work-in-Progress bei der Eröffnung des Impulse-Festivals. Die Idee des Stückes ist auch schlichtweg verführerisch: Was geschieht, wenn der Gardetanz des Karnevals auf zeitgenössischen Tanz trifft? Leichtfertig könnte dieser Idee etwas zu viel Marketing-Geschick unterstellt werden, aber »Cobra Blonde« entkräftet diesen Vorwurf sofort. Weder verlässt sich das Stück auf Schauwerte, noch spielt es die naheliegende Humorkarte. Elf Frauen der Tanzgarde der Karnevalsfreunde der katholischen Jugend Düsseldorf ließen sich auf das Experiment ein.
Das gut 45minütige Stück lässt sich zunächst viel Zeit, um das Thema zu etablieren. In ihren blau-silbernen, glitzerbewährten Kostümen marschieren die Damen durch die Gänge der Viersener Stadthalle, bis sie auf dem Bühnengeviert angekommen sind. Ronni Schendar hat um eine weiße Fläche farbige Streifen wie Laufstege gelegt, einige Treppen und Rampen hineingebaut. Im Bühnenhintergrund knicken die Farbbänder in die Senkrechte und formen einen Rahmen um den schwarzen Hintergrund.
Die Garde exerziert entlang der Laufbahnen erst einmal weiter. Ohne Musik und ohne fliegende Funkenmariechenbeine steht das Militärische im Vordergrund. Ob die thematische Ausgangsposition wirklich in dieser Ausführlichkeit vorgetragen werden muss, ist bald die drängende Frage. Umgekehrt löst Shemesh die Situation aber auch gerade dann auf, als es beginnt schmerzhaft zu werden. Die Unentschlossenheit, die sich hier zeigt, bestimmt auch den weiteren Verlauf. Was soll dieser Abend eigentlich erzählen? Dass das gemeißelte Lächeln der Tänzerinnen nicht echt ist, dass die blonden Zöpfe alle nur Perücken sind? Dass sich unter der genormten Mädchenhaftigkeit echte Menschen verbergen? Dass Karneval für die Menschen auf der Bühne harte Arbeit ist?
Viel mehr als die großartige Ausgangsidee fällt Reut Shemesh im weiteren nicht mehr ein. Es werden Perücken abgenommen und Zöpfe zusammengeflochten. Die Gardetanzreihe als unauflösbare Verbindung der Körper. Zwischendurch werden Schlager gelipsynct. Von Dolly Partons »Dump Blonde« bis zu – Achtung! – Ernst Negers »Heile, heile, Gänschen«. Vielleicht der überraschendste Moment dieses Stückes: Die Ikone der Mainzer Fastnacht trifft auf Düsseldorfer Garde.
Der redundanteste Einfall: Irgendwann kommt eine der Tänzerinnen in einer Polizistinnen-Uniform auf die Bühne. Das zackig Militärische ist dem Karneval in ironischer Brechung eingeschrieben. Dass die bis in die Fingerspitzen gestreckten Arme der Tänzerinnen vielleicht auch an Gesten einer verkehrsregelnden Polizistin erinnern – wenig Erkenntnisgewinn. Und dann ist da noch die Musik, die Simon Bauer besorgt hat. Durch die Mangel gedrehte Karnevalsmärsche. Kurze Schnipsel, die immer wiederholt werden, manchmal auch längere Stücke, mit verschiedenen Soundfiltern verfremdet. Es ist klar, wo das hingehen soll, aber es klingt, als hätte jemand gerade erst die Musikbearbeitung auf seinem Rechner entdeckt. Das überrascht insbesondere deshalb, weil Simon Bauer als Bühnenmusiker durchaus erfahren ist. Am Schluss gönnt Reut Shemesh uns und den Tänzerinnen dann noch eine kurze echte Showeinlage – der naheliegendste Weg, aus diesem Stück rauszukommen.
Der Eurotrash-Song »Eins, zwei, Polizei« von Mo-Do ging übrigens weiter mit: »drei. vier, Grenadier, fünf, sechs, alte Gags, sieben, acht, gute Nacht.«
Tanz NRW 21, bis 9.5.
Alle Streamingtermine hier
Hartmannmueller: »Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung«, on demand, täglich bis 8.5. von 22-0 Uhr
Reut Shemesh: »Cobra Blonde«, Livestream am 8.5.