Uma Thurman ganz nah. Fotografiert 2016 in New York: Das Gesicht in die Hände gelegt, ein paar Sprossen auf der Nase, zarte Fältchen um die Augen. So schaut die Hollywoodikone direkt in die Kamera. Ganz anders, aber ähnlich eigen wirkt jene megacoole Verbrecherbande beim Lunch in Brooklyn: Peter Lindbergh lässt eine Clique internationaler Topmodels in die Rolle der Millionenräuber schlüpfen, die 1978 beim legendären »Lufthansa Heist« in New York zugeschlagen haben.
Das sind nur zwei der starken Bilder, die der Fotograf gleich zum Start seiner Schau im Kunstpalast groß zur Wirkung bringen wollte – jedes auf rund zehn Quadratmeter vergrößert. Mit der Auswahl habe er sich sehr schwer getan, so gestand er in einem seiner letzten Interviews, das im Katalog zur Düsseldorfer Schau abgedruckt ist. Zum Gespräch hatte ihn Kunstpalast-Leiter Felix Krämer vergangenen Juni im Pariser Studio besucht. Drei Monate später nur starb Lindbergh im Alter von 74 Jahren – völlig überraschend. Ein »Herzensprojekt« sei die Düsseldorfer Schau für den Künstler gewesen, sagt Krämer. Und sie ist zum Vermächtnis geworden. Denn der Fotograf allein hat sie kuratiert. Eine Arbeit, die ihn die letzten zwei Jahre seines Lebens begleitet hat.
An hunderte von Fotos, die er dazu auf dem Fußboden ausgebreitet hatte, erinnert sich Krämer. Im Ausstellungskatalog ist ein kleiner Plan abgedruckt, in dem Lindbergh die Anordnung der Bilder in den Museumsräumen skizziert: »Ich fühle mich für jedes einzelne Foto in meiner Ausstellung total verantwortlich, und das ist fantastisch.«
Insgesamt sind es rund 120 zum Teil nie zuvor öffentlich gezeigte Werke, die jetzt in Düsseldorf sein Schaffen spiegeln, von den frühen 80ern bis 2018. Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Linda Evangelista, Claudia Schiffer – lauter gutbekannte Gesichter. Jene berüchtigte Riege, mit der Lindbergh um 1990 den neuen Typ des Supermodels kreiert hat, steht aber nicht in der ersten Reihe. Wichtiger als dieses vielzitierte Kapitel seiner Karriere waren ihm im Kunstpalast die weniger geläufigen Seiten – die »Untold Stories«, wie es im Ausstellungstitel heißt.
Als Dekorateur bei Karstadt
Mit den »unerzählten Geschichten« ist es bei Lindbergh allerdings nicht ganz einfach. Angesichts unzähliger Bücher, Artikel, Interviews, Filme, die Leben und Leistung so gründlich beleuchten. Begonnen mit der ungewöhnlichen Karriere des Fotografen, der 1944 im von den Deutschen besetzten Polen als Peter Brodbeck zur Welt kam, dann aber im Nachkriegs-Duisburg aufwuchs. Die Fabrikschlote in Sichtweite. Volksschule, anschließend eine Episode als Dekorateur bei Karstadt. Ein Malereistudium in Krefeld, mit 27 die erste Kamera, wenig später die Assistenz bei einem Düsseldorfer Werbefotografen. 1978 zog Lindbergh um nach Paris, wo er seine große Karriere startete. Und dabei alles über Bord warf, was bis dahin üblich war in der Modefotografie.
Perfekte Körper, schwerer Schmuck und elegante Kleider, garniert mit viel Kajal und Haarspray – so präsentierten sich die Models bis in die 1980er Jahre. Bei Lindbergh sieht dagegen alles lässig aus, schwarz-weiß und leicht körnig. Er lässt die Frauen wirken – erwachsen und selbstbestimmt. Das Outfit tritt dagegen in den Hintergrund. Dabei bringt er seine Models und das Drumherum oft in Bewegung: wallende Stoffe, flatterndes Haar, aufgewühltes Meer. Auch tolle Tanzfotos hat er im Umfeld der engen Freundin Pina Bausch geschossen.
Die Bezüge sind vielfältig: Lindberghs Faszination etwa für die US-amerikanische Reportagefotografie der 1930er Jahre mit Kollegen*innen wie Walker Evans oder Dorothea Lange sind unübersehbar. Und wenn der Fotograf zum Shooting für das Label »Comme des Garçons« in die Maschinenhalle bittet, hat er neben der eigenen Jugend im Ruhrgebiet ganz bestimmt ebenso Fritz Langs »Metropolis« im Kopf.
Auch er selbst erzählt gern Geschichten. Mal handeln sie von Gangstern in Brooklyn, ein andermal von außerirdischen Wesen, die in UFOs auf der Erde landen. »The Unknown« heißt jenes visuelle Science-Fiction-Abenteuer, das den Fotografen über Jahre fesselte. Wie ein Filmstill wirkt etwa eine Szene mit Topmodel Helena Christensen: In Pumps und weißem Kleid, ganz kurz und knapp, läuft sie die staubige Landstraße hinab – und neben der schönen Schlanken ein kleiner Kahlkopf mit Antennen auf der Stirn.
»Eigentlich habe ich mich gar nicht für Mode interessiert. Ich wollte mir immer meine Freiheit im Denken bewahren und mich nicht von der Mode vereinnahmen lassen.«
Peter Lindbergh
Krämer hatte schon länger vermutet, dass Lindbergh sich eigentlich gar nicht für Mode interessiert. Als er dem Fotografen irgendwann von seinem Verdacht erzählte, zeigte der sich erfreut. »Endlich sagt das mal jemand«, so Lindbergh. Seit 25 Jahren war er nicht mehr auf einer Modenschau gewesen. Die Begründung: »Ich wollte mir immer meine Freiheit im Denken bewahren und mich nicht von der Mode vereinnahmen lassen.« Er hat seine Bilder auch nie als »Kleiderporträts«, sondern immer als »Frauenporträts« verstanden. Mit seiner Kamera versuchte er, nicht das Model, sondern den Menschen zu treffen. Nicht die Fassade interessierte ihn, sondern was dahinter steckt – er suchte es etwa in der Nähe und im Blick der Frauen zu ergründen.
Dass es ihm so oft gelang, liegt sicher nicht nur an der Fertigkeit des Fotografen. Ebenso ausschlaggebend war sicher Lindberghs Wesen. Er wusste, wie man das Gegenüber knackt – Frauen, die ihm das bestätigen, gibt es etliche. Charlotte Rampling zum Beispiel hat einmal gesagt, sie finde es schöner, wenn Lindbergh zeige, wer sie ist, als wenn sie dies selber tut. Auch Penélope Cruz war ein Fan: Der Fotograf verbreite eine solche Ruhe, und es sei zwecklos, ihm etwas vorzumachen.
Cruz und Rampling gehören zur Prominenz, die Lindbergh 2016 bei Foto-Sessions für den berühmten Pirelli-Kalender traf. Kolleginnen wie Nicole Kidman und Helen Mirren waren auch darunter. In Düsseldorf sind einige der in diesem Rahmen entstandenen Porträts zu sehen – oft Nahaufnahmen, in denen die Stars sich echt, schlicht und zurückhaltend geschminkt vor der Kamera zeigen. Uma Thurmans Sprossen auf der Nase dürfen bleiben, die Fältchen um die Augen auch. Er habe etwas gegen den heutigen »Terror von Perfektion und Jugend« tun wollen, so hatte Lindbergh damals erklärt. Und dem heutigen Ideal den Kampf angesagt: »Alles Unvollkommene ist verschwunden. Und das lässt nur leere Gesichter übrig.«
Für den Schluss hebt sich die Düsseldorfer Ausstellung eine tatsächlich »unerzählte« Geschichte auf, die aber gar nicht so abwegig oder überraschend ist, wie es zunächst vielleicht scheinen mag. Der 2013 entstandene Film »Testament« wird erstmals präsentiert. Über eine halbe Stunde richtet Lindbergh hier seine hochauflösende Filmkamera in das Gesicht des zum Tode verurteilten Kindesmörders Elmer Carroll. Der durfte nicht sprechen, sich nicht bewegen, einfach nur schauen. »Introspektion, Ausdruck, Empathie und Freiheit«, dies seien, so Lindbergh, die Themen, um die es ihm hier und immer wieder gegangen sei.
KUNSTPALAST, DÜSSELDORF, www.kunstpalast.de, bis 27. September 2020