Die beiden Performer Michael Lurse und Marko Werner gehen voran. Sie weisen mit ihren gefüllten Eimern und der großen Gießkanne den Weg in den Theatersaal. Das junge Publikum folgt ihnen und wird von intensiven Tropfgeräuschen begrüßt. Über der mit einer strahlend blauen Plastikplane bedeckten Spielfläche hängen zwei imposante Eisblöcke und schmelzen ganz langsam vor sich hin. Jeder Tropfen, der aus etwa zwei Meter Höhe auf die Plane fällt, erzeugt einen besonderen Klang, der einem sanften Trommelschlag gleicht. So wird in der von Barbara Kölling inszenierten Performance »Ha Zwei Oohh« schon der Einlass zu einem Ereignis. Ein wenig erinnert der Einzug der kleinen und großen Zuschauer*innen an eine Prozession. Aber allzu feierliche Gedanken werden alleine von Michael Lurses und Marko Werners Kleidung vertrieben. Beide tragen schwarze Gummistiefel, khakifarbene Shorts, helle Shirts und erinnern damit von fern an die Tierpfleger, die im Zoo Robben und Seehunde vor einem lachenden und staunenden Publikum füttern. Zum Lachen und Staunen verführt auch Lurses und Werners Spiel, das sich voller Neugier und Experimentierlust mit dem Element Wasser beschäftigt.
Dieser gemeinschaftliche Gang von Spielern und Zuschauern, mit dem diese Inszenierung für Kinder ab zwei Jahren beginnt, ist mittlerweile fast schon so etwas wie ein Markenzeichen des Helios Theaters. Die Performer suchen nicht einfach nur die größtmögliche Nähe zu ihrem sehr jungen Publikum. Sie laden es ganz konkret ein, mit ihnen zusammen eine neue Welt zu entdecken. Dazu gehört eine besonders auf die Allerkleinsten abgestimmte Arbeits- und Inszenierungsweise. »Wann beginnt ein Stück? Wie lade ich mein Publikum ein? Wie bringe ich es in den Saal? Und was mache ich dort? All das sind Fragen, mit denen wir uns sehr intensiv auseinandersetzen?«, erzählt Barbara Kölling, die eine Hälfte des künstlerischen Leitungsteams des Helios Theaters, während wir gemeinsam auf der roten Couch im oberen Foyer des Hammer Kulturbahnhofs, der Heimat dieses in vielerlei Hinsicht einzigartigen freien Kinder- und Jugendtheaters, sitzen.
Ein Zentrum der Bühnen-Avantgarde
Seit 2005 lassen Fragen wie diese Barbara Kölling und ihr kleines Team aus Performern und Theaterpädagogen, Assistenten und Musikern nicht mehr los. Damals hat das Theater mit »Erde, Stock und Stein« seine erste Produktion für Kinder ab zwei Jahren herausgebracht. Ein einschneidender Moment in der Geschichte des 1989 gemeinsam von Kölling und Michael Lurse in Köln gegründeten Theaters. Der erste große Einschnitt für die beiden kam 1997, als sie mit ihrem Theater aus der Metropole am Rhein ins westfälische Hamm umgezogen sind. Das war, wie Kölling auch heute noch sagt, »durchaus ein Wagnis. Schließlich ist Hamm eine Stadt, in der es nie ein Stadttheater gab. Was eben auch heißt hier leben viele Menschen ohne Theatererfahrung.«
Trotzdem haben die beiden Theatermacher das Angebot der Hammer Politik angenommen. In der Stadt am Hellweg hatten sie die Möglichkeit, sich ihren Wunsch nach Kontinuität zu erfüllen. Ein freies Kinder- und Jugendtheater mit eigenen Räumen in der Größe, die ihnen seit September 2004 der Kulturbahnhof in Hamm bietet, wäre in einer Stadt wie Köln kaum zu finanzieren gewesen. Vor dem Wechsel nach Westfalen hatte sich das Helios-Team um Kölling und Lurse vor allem als Tourneetheater verstanden, das seine Produktionen über Gastspiele im ganzen Bundesgebiet finanziert hat. Auf Reisen gehen sie auch heute noch, und die führen sie und ihre Inszenierungen mittlerweile um den halben Erdball. Aber das Zentrum ihrer Arbeit ist die einst Theater-unerfahrene Stadt Hamm, die sich dank Köllings und Lurses Engagement in ein Zentrum der Bühnen-Avantgarde verwandelt hat. Aber es ist nicht nur die Freiheit zu experimentieren, die die Regisseurin und Theaterleiterin so schätzen gelernt hat. Mindestens ebenso große Freude bereitet ihr die Möglichkeit, ihr Publikum aufwachsen zu sehen. Stolz und Begeisterung schwingen erkennbar in ihrer Stimme mit, wenn sie von den Kindern spricht, die mit zwei oder drei Jahren das erste Mal in einer der Produktionen für die Allerkleinsten waren und nun mit 14, 15 in den Jugendclub des Theaters kommen, um selbst auf der Bühne zu stehen.
Die Spielpläne der Kinder- und Jugendtheatersparte der Stadttheater kreisen auch heute noch um das große Familienstück, das seine Premiere eigentlich immer in der Vorweihnachtszeit hat. Diese meist auf klassischen Märchen oder zeitgenössischen Kinderbüchern basierenden Produktionen bringen den Häusern nicht nur hervorragende Besucherzahlen. Sie sind für viele Kinder, die mit ihren Schulklassen eine der Vormittagsvorstellungen besuchen, der erste Kontakt mit dem Theater. Insofern haben sie mittlerweile Generationen von Theatergängern geprägt. Allerdings vermitteln sie ein verhältnismäßig konservatives Bild vom Theater als einem Ort, an dem mal spannende, mal lustige Geschichten erzählt werden. Das Publikum soll vor allem mitfiebern und wird von der Bühnenmaschinerie überwältigt.
Diese Form des Kinder- und Jugendtheaters überlässt Barbara Kölling den Stadttheatern. Sie hat ein ganz anderes Verständnis von diesem Genre. »Das Kinder- und Jugendtheater ist ein Stück weit auch zu einem Experimentierfeld innerhalb des Theaters geworden. Für uns war immer schon klar, wir müssen den Zuschauer mitdenken. Die klassische vierte Wand, die gerade landauf, landab im Erwachsenentheater mühsam eingerissen wird, konnte im Kinder- und Jugendtheater in der Form überhaupt nie existieren. Insofern war es gar nicht so schwer in den Bereich des Performativen zu wechseln.« Mit der Hinwendung zu den Allerkleinsten haben die experimentellen und performativen Aspekte der Arbeit am Helios Theater noch einmal deutlich an Bedeutung gewonnen.
»Wenn ich an die ganz Kleinen denke, die zu unseren Lieblingszuschauern gehören, wäre es überhaupt keine Möglichkeit, denen mit einer vierten Wand zu begegnen. Die brauchen die direkte Ansprache, den direkten Kontakt.« Und dieses Wissen hat Barbara Kölling und ihren Mitstreiter Michael Lurse dazu angeregt, ihre Vorstellungen von Theater noch einmal genau zu überdenken, oder wie sie es formuliert: »Wir alle sollten dahin kommen, diesen einen Begriff von Theater aufzulösen.« Stücke wie »Ha Zwei Oohh« oder »Holzklopfen« zeigen wie ein offeneres, vielfältigeres Theater, das nicht nur die Kleinen und Allerkleinsten anspricht, aussehen könnte. An die Stelle der Geschichten treten Materialuntersuchungen, in denen sich Elemente des Material- und Objekttheaters mit Anklängen an Performance und Puppenspiel mischen. Diese abstrakten Arbeiten, die oft mit den Sehgewohnheiten des älteren und des erwachsenen Publikums brechen, zeichnen sich zugleich aber durch eine ungeheure Sinnlichkeit aus. Das Material, mit dem die Performer im wahrsten Sinne spielen, entwickelt eine ungeheure Faszination für die zwei- und dreijährigen Zuschauerinnen und Zuschauer, die Michael Lurse in »Holzklopfen« auch einlädt, sich ihre eigenen Wege über die Bühne zu suchen.
Die Ideen und Erkenntnisse, die sich aus den Produktionen für die Allerkleinsten entwickelt haben, prägen mittlerweile alle Arbeiten des Helios Theaters. So gleicht »Lou«, die sich an Jugendliche ab 15 richtende Annäherung an das Leben der von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Journalistin Louise Strauss-Ernst, einer Collage aus Projektionen und Erzähltexten, aus Musik und Spiel. Die experimentelle Musiktheater-Produktion »Wer den Wind erweckt hat«, mit deren Inszenierung Barbara Kölling die Spielzeit 2018/2019 eröffnet hat, basiert zwar auf einer lettischen Mythe und erzählt eine klassische Geschichte von einer Spinne, die von einer Fliege um ihren Verdienst betrogen wird und sich dafür netzespinnend rächt. Trotzdem schwingen in diesem atmosphärisch ungeheuer dichten Puppenspiel für Kinder ab fünf Jahren, das von einer experimentellen, Stimmungen ebenso wie Naturphänomene evozierenden Musik, auch Anklänge an Michael Lurses Materialuntersuchungen mit. Die einzelnen Formen und Genres vermischen sich zu einer perfekten Einheit, in der sich »dieser eine Begriff von Theater« auf geradezu magische Weise auflöst.