TEXT: NICOLE STRECKER
Sie gilt als scheu und kann doch bewundernswert eloquent choreografische Strukturen beschreiben. Sie mag streng und diszipliniert sein, eine Perfektionistin – und doch mit einer großen Schwäche für den menschlichen Makel. Für den Drang, aus präzise ausgeklügelten Mustern auszubrechen, für die menschliche Lust an der Übertreibung und theatralischen Geste: Hier plötzlich eine schnörkelnde Hand in sonst schwert-schnittig geführten Armbewegungen, da ein koketter Hüftknick, wenn man als Zuschauer gerade ganz in die Strukturen selbst vertieft war und fast vergessen wollte, dass all die Linien, Geometrien, exakten Rhythmen von einem menschlichen Körper erschaffen werden. Der Tänzer ist der potenzielle »Fehler« im System, der Garant, dass im Zentrum jeder Ordnung das Chaos gärt – und keine andere Choreografin versteht es, so gut getimed an den möglichen Kollaps zu erinnern wie Anne Teresa De Keersmaeker.
Wer in den 90er Jahren, als die 1960 geborene Flämin sich in Deutschland langsam vom Geheimtipp zum Gastspiel-Hit wandelte, einem ihrer Stücke zum ersten Mal begegnete, mag irritiert gewesen sein: Der neue Star begeisterte mit Beiläufigkeit. Während der übrige Tanz aus Belgien wild und männlich war – Macho-Protest bei Jan Fabre, riskant-brutale Studien zur Triebkreatur »Mensch« bei Wim Vandekeybus, verzweifeltes »Ecce homo« bei Alain Platel –. pflegte die Dame der Szene mit ihrer 1983 gegründeten Kompanie »Rosas« das inszenatorische Understatement: Zarte Frauen in Turnschuhen, Söckchen und schlichten Kleidern, mädchenhaft verletzlich, aber zäh. Beinschlenker mit lässig-gebeugten Gelenken, repetitive Bewegungsmuster, cooles Off-Balance. Scheinbar simpel, tatsächlich aber nicht nur eine physische, sondern auch eine intellektuelle Topleistung. Ein Augenblinzeln genügt, und schon hat man die entscheidende Variation in der Wiederholung verpasst. So wirken ihre Choreografien oft wie hochkomplexe Rechenaufgaben für die Tänzer, sie fordern ein ständiges inneres Abzählen, damit punktgenau auf den ersten, fünften oder achten Takt eine Richtungsänderung, ein neuer Armschwung, ein Ausscheren aus dem Synchrontanz mit der Gruppe passiert – wie etwa in ihrem seriellen Stück »Fase«, einem ihrer ersten Werke. Zum treibenden Endlos-Loop von Steve Reich drehen sich zwei Frauen exakt synchron in Halbkreisen um die eigene Achse. Eine halbe Drehung, ein Arm. Eine halbe Drehung, ein Arm. Vorderseite, Rückseite, Vorderseite…. Doch plötzlich drehen sie sich gegen-gleich – und man könnte kaum sagen, wie das geschehen ist. Der Teufel – oder eigentlich: das Genie – steckt eben im Detail, in der Verblüffung, die nicht nur in solchen Augenblicken, sondern sich ganz grundsätzlich aus den fast widersprüchlichen wirkenden Konstanten in Keersmaekers Œuvre ergeben: Stücke, die logisch-mathematisch wie ein Sudoku sind und gleichzeitig ein feminin-erotischer Genuss, bei dem gern schon mal ein nacktes Frauenbein als Blickfang dient, ein hüfthochfliegender Rock überraschend einen etwas großen, weißen Tänzerinnenslip blitzen lässt. Kluges Kalkül und Sexappeal – als wäre das Klischee von der »weiblichen Berechnung« ein Arbeitsprinzip. Zudem ihr vielgerühmter, hypersensibler Umgang mit Musik, deren Spektrum von der mittlerweile so durchgenudelten Minimal Music über Brahms, Mahler, Schönberg, Bartók, Mozart bis hin zu zeitgenössischen Adaptionen von mittelalterlichen Vokalgesängen reicht – wie jetzt bei ihrem Doppel-Gastspiel bei der Ruhrtriennale.
Wer sie hier sehen will, muss früh aufstehen – im Wortsinn. Der theaterübliche Sonnenuntergang, aber eben auch der unübliche Sonnenaufgang werden die Kulisse ihrer beiden Festival-Stücke sein. Um fünf Uhr morgens, einem licht-ästhetischen, aber bei den meisten sicher auch mentalen Dämmerzustand, beginnt ihre Choreografie »Cesena«. Morgenröte für ein Blutbad: Denn ihr Titel verweist auf ein Massaker mit tausenden Toten, das im Jahr 1377 der spätere Papst Clemens VII. im italienischen Cesena verüben ließ. Auch im Gegenstück zum wörtlich verstandenen »Morgengrauen« dient De Keersmaeker eine historische Epoche als Ausgangspunkt: In »En Atendant« wird in die Nacht hineingetanzt, um das pestverseuchte 14. Jahrhundert herbei zu assoziieren – zunehmende Finsternis und sich langsam in der Dunkelheit auflösende Körper für den Schwarzen Tod. Und in beiden Choreografien drängt die zeitgenössische Bewegungssprache und Abstraktion der Inszenierung zur Frage, wie viel das katastrophische Lebensgefühl dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun hat. Ist doch die Bezugnahme auf eine soziale Historie immer da in Anne Teresa De Keersmaekers Stücken, auch wenn politische Diskurse nur selten ausformuliert werden. In dem jüngst erschienenen, ihr gewidmeten Interview-Band »A Choreographer’s Score« nennt sie etwa Filme von Rainer Werner Fassbinder als Inspiration zu ihrem Stück »Rosas danst Rosas« – eine Quelle, auf die wohl kaum jemand gekommen wäre. Wie überhaupt dieses Buch den Verdacht bestätigt, man habe beim einmaligen Anschauen ihrer Arbeiten nur einen Bruchteil des in ihnen versteckten Gedankenreichtums erfasst. Auf den beigefügten DVDs sieht man De Keersmaeker in Baggy-Jeans und verrutschtem Pullover an einer Tafel stehen und mit unendlich vielen Begriffen, Kreisen, Quadraten und vor allem Pfeilchen quasi jeden Schritt ihrer Choreografien begründen – faszinierende »Lecture performance« einer Choreografin, so leidenschaftlich wie nüchtern.
Ihr zuletzt in Pact Zollverein Essen – ihrem wichtigsten Abspielort in Nordrhein-Westfalen – gezeigtes Frauenstück »Elena’s Aria« aus den 80er Jahren reflektiert Frauenbilder in postfeministischen Zeiten, dabei scheppert irgendwann in schlechter Tonqualität wie aus einem alten Transistorradio die Stimme eines spanisch sprechenden Politikers – vielleicht eine zerschlissene Aufnahme von Fidel Castro als Relikt aus rebellischer Vergangenheit? Am deutlichsten und persönlichsten aber zeigt sich ihr Bewusstsein für den Einfluss von historischen und biografischen Prägungen auf ihren Tanz wohl in ihrem grandiosen Solo »Once« aus dem Jahr 2003, als der Irakkrieg die Welt verstörte. 14 Songs lang tanzt und summt De Keersmaeker darin selbst zu Melodien der Friedens-Folkerin Joan Baez, ist halb ergriffen, halb genervt von dem Pathos in den Liedern, und schafft mit eben dieser Distanz aus Kitsch echten Schmerz: über gescheiterte Ideale, die zerstörte Hoffnung einer Generation auf eine irgendwie bessere Welt.
Längst ist Anne Teresa De Keersmaeker über jeden Zweifel an der Virtuosität im Beiläufigen erhaben. Längst ist sie eine moderne Klassikerin, Gründerin der renommierten Tanzschule P.A.R.T.S. in Brüssel und nicht nur stilbildend für den Bühnentanz, sondern auch für den Genre-Hybriden »Tanzfilm«: In Kooperation mit dem Komponisten und Filmemacher Thierry de Mey entwickelte sie Gesamtkunstwerke aus Tanz, Musik, Film und Live-Konzert. Regisseur Peter Greenaway folgte 1992 im Tanzfilm »Rosa« zwei De Keersmaeker-Tänzerinnen durch das Foyer einer alten Oper. Die Verfilmung ihres Kompanie-Gründungsstückes »Rosas danst Rosas« allerdings bekam im vergangenen Jahr eine eigen-tümliche »Coverversion«: Popstar Beyoncé Knowles kopierte dreist Schritte und Gesten sowie das Set und Filmeinstellungen für ein Musikvideo und gab die »Inspiration«, offenbar frei von Schuldgefühlen, zu. De Keersmaeker protestierte und initiierte damit eine längst überfällige Debatte über Copyright im Tanz. Dann aber gratulierte sie Beyoncé zu deren Schwangerschaft – generös und ironisch gelassen. Der Mensch ist ein Mängelwesen – wer wüsste das besser als sie.
»En Atendant« 24. bis 26. August 2012, Jahrhunderthalle Bochum. »Cesena« 25. und 26. August 2012, um 5 (!) Uhr, Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de