Von heftiger Anziehungskraft aber geringer Stabilität – so charakterisiert Goethe in den »Wahlverwandtschaften« die chemische Elementarverbindung Das Paar. Botho Strauß nennt es den »menschlichen Vierfuß«: »auf Erden das höchstentwickelte Lebewesen.« Er preist das Paar vielfach; und kann doch immer nur seinen Auseinanderfall erzählen. Die Mann-Frau-Dyade stellt die Keimzelle der Gesellschaft dar (sagt man), aber ist auch das stärkste anti-soziale Gift. Das Paar ist ein Paradoxon, es erhöht und erniedrigt, wer ihm angehört; in seinem Innern herrschen größte Hitze und Einsamkeit zur selben Zeit. Auch in Auguste Rodins »Der Kuss« ist das umschlungen sitzende Paar nur von einer Sichtposition aus in Innigkeit verschmolzen; umrundet man die Skulptur, scheint der Mann sich von der Frau zu lösen, man entdeckt immer mehr Zeichen der Zurückhaltung, ja der Verkrampfung auf seiner Seite. Die Frau hingegen bleibt in der Hingabe – doch an wen? An ihn? Oder nur an die eigene Phantasie? Was zeigt Rodin hier? Und warum trennt die beiden Küssenden – in ihrer offenen Nacktheit eine Primärikone sinnlicher Hingabe – eine gute Handbreit unbearbeiteten Steins?
Paare sind ein Zentralmotiv im Werk Rodins. Dennoch gibt es bislang offenbar keine angemessene Würdigung dieses Sachverhalts, weswegen die jetzige Ausstellung im Museum Folkwang (in Kooperation mit der Münchner Hypo-Kunsthalle) nicht nur ein Desiderat erfüllt, sondern auch eine neue Sicht gerade auf die bekanntesten Rodin-Skulpturen werfen kann. 35 Plastiken in Marmor, Bronze und Gips aus allen Schaffensphasen sowie zahlreiche Zeichnungen, Aquarelle, Fotogravuren und Fotografien (aus vielen europäischen Museen) belegen die Lust des schon zu Lebzeiten legendären Bildhauers und homme de femmes an immer neuen Paaren. Und immer neuen Paarungen: Nicht nur die Körper, die er formt, auch die, die er zueinander fügt, sind Ergebnisse formaler Recherchen – das machen Ausstellung und Katalog mehr als deutlich. Rodin erzählt in seinen Bildwerken keine Geschichten, er erschafft Raum- und nicht zuletzt Lichtwirkungen (was Rilke, der sich als Rodins Schüler begriff, so faszinierte). Rodin kalkuliert; wenn auch gewiss nicht kühl. Spielerisch fügt er ursprünglich isoliert entstandene Figuren zusammen und gruppiert wieder neu; die Titel wechseln und mit ihnen die Narrationen (aus »Christus und Magdalena« etwa wird »Prometheus und eine Ozeanide«); ja nicht einmal das Geschlecht der Figur ist von Belang. Da ist Rodin ein radikal Moderner, für den das Kunstwerk autonom geworden ist: Form. Karl Ernst Osthaus, der Hagener Mäzen, der Rodin um die Jahrhundertwende kennen lernte, erzählt, mit welcher Hingabe der Künstler seine Skulpturen per mythologischem Titel und zugehöriger Geschichte literarisierte; und wie dieselbe Figur kurze Zeit spät einen anderen Namen und eine andere Geschichte trug.
Die Skulptur »Der Kuss« von 1881/82, die im Zentrum der Essener Ausstellung steht, ist, wie die meisten Rodin’schen Werke, im Kontext der »Höllenpforte« entstanden, der Gestaltung einer riesigen Eingangstür nach Motiven vor allem aus Dantes »Divina Commedia«. Die Pforte und ihre Figurationen dienten Rodin sein Leben lang als Ideenreservoir; auch der berühmt-berüchtigte »Denker« stammt hierher. »Kuss«-Vor-Bild in der Pforte war »Paolo und Francesca«, Dantes frevelhaftes Liebespaar, das sich, in die Hölle verbannt, ewig nacheinander sehnen muss – offenbar hat sich die Tragik dieses Paares in den »Kuss« übertragen. Die Rezeption jedoch entproblematisierte das viel beachtete und seiner Nacktheit wegen zunächst skandalisierte Werk; auf welche Weise, hat die Kuratorin der Ausstellung, Anne-Marie Bonnet, entdeckt: Fast alle fotografischen Reproduktionen der Plastik zeigten über Jahrzehnte hinweg ausschließlich den Blickwinkel, von dem aus das Paar innig vereint erscheint.
Das Genie Rodins aber war bereits weit über den traditionellerweise fixierten Betrachterstandpunkt hinaus in den Raum vorgestoßen; in die Moderne, ins Offene, in die Vielfalt der Deutungen. Seine Kunst wollte nicht mehr das Ideal zeigen, die Lösung, sondern das Problem. //
»Auguste Rodin. Der Kuss – die Paare«; 27. Januar bis 8. April. Katalog 25 €. Tel.: 0201/8845-301. www.museum-folkwang.de