TEXT: ANDREAS WILINK
Die Kurzfassung stammt vom Autor und steht auf den letzten Blättern des 700-Seiten-Romans, dem Lebensbericht des Trommlers Oskar Matzerath, der seine krause Biografie zwischen Danzig und Düsseldorf, zwischen 1924 und 1954 folgendermaßen zusammenfasst: »Unter Glühbirnen geboren, im Alter vor drei Jahren vorsätzlich das Wachstum unterbrochen, Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirchen gehustet, Luzie gefüttert, Ameisen beobachtet, zum Wachstum entschlossen, Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient und den Finger gehütet, den Finger verschenkt und lachend geflüchtet, aufgefahren, verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen, feiere ich heute meinen dreißigsten Geburtstag.«
Das fehlte noch, nachdem »Buddenbrooks«, Goethe, Fontane, Döblin, Musil, Koeppen, Frisch und manches mehr nicht nur der deutschsprachigen Literatur aus den Bibliothe-ken auf die Bühne kamen: Günter Grass’ 1959 erschienene »Blechtrommel« wird zum »dramatischen Oratorium einer kollektiven Erzählung«. So charakterisiert Armin Petras seine Adaption, die für die Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater uraufgeführt und von Jan Bosse inszeniert wird.
Kollektive Erzählung, was heißt das? Hier spricht das Volk – und wird gesprochen? Es klingt, als würde Grass gewissermaßen aus dem Geiste von Kempowski und dessen Montagetechnik gelesen. Petras verschiebt jedenfalls den Akzent. Ein Stückchen weg von Oskar, dem kaschubisch-polnischen Deutschen, dessen Mutter Agnes unter den Röcken der Großmutter Anna Bronski auf dem Kartoffelacker gezeugt wurde, diesem Sonderfall und Außenseiter par excellence: verquerer Künstler, Märchenfigur, Lügner und armer Irrer, »Halbgott der Diebe«, Häftling und ins Groteske verbogener Felix Krull.
Grass mokiert sich in der »Blechtrommel« auch über die Krise des modernen Romans, was sich heutzutage verstehen ließe als Spitze gegen das postmoderne Theater: »Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung anstiften… Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich, einen Roman zu schreiben… Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individuen mehr gibt, weil die Individualität verloren gegangen ist.«
Über solche Vorbehalte setzt der Fabulierer sich indes souverän hinweg und stellt einen Helden in den Mittelpunkt: ein zwar kleines (maximal 1,21 Meter großes), aber gewaltiges Ich. Oskar würde alles andere auch unter seiner Würde finden.
Armin Petras bekennt, bei Grass seine mit Abstand schwerste Romanbearbeitung geschafft zu haben, weil in der »Blechtrommel« eigentlich nur ein Mensch spreche (»wie in Becketts ›Das letzte Band‹«) und der Mono-Klang neu organisiert werden musste. Die Theatermacher haben anderes im Sinn als seine Majestät Oskar. Es scheint clever, sich den »Oskarnismus« nicht zu sehr zu eigen zu machen, sondern das monomane Solo aufzulösen und die Zentralfigur auf mehrere Darsteller zu übertragen. Wenn nicht Oskar, den das Gedächtnis eh als David Bennent abgespeichert hat, was dann? »Es geht um die Trommel.«
Wer hört sie, wer verfällt ihr, wer muss nach ihrer Melodie tanzen? Ekstase. Gruppenerlebnis. Massenphänomen. Vielleicht gar Entmündigung? Mit Musik geht alles besser. Die Trommel funktioniert wie ein Echolot, ein Verstärker, ein Zeitmesser, und ist Instrument, um das Imperfekt zu beschwören und der Gegenwart einzuheizen.
Petras’ Gorki Theater, geübt darin, sich mit Umbrüchen deutscher Geschichte zu beschäftigen und Spurensuche zu betreiben, fragt immer wieder: Wo kommen wir her? Wie wurden wir die, die wir sind?
Er selbst sei, sagt der in Meschede geborene Petras, ein »deutscher Bummler«, Orts- und Milieuwechsler. Wie auch Grass, gezwungenermaßen. Der Schriftsteller legt in der »Blechtrommel« Zeugnis ab von drei Dezennien deutscher Geschichte – vom Nationalsozialismus, an dem er näher dran war, als wir (und er selbst) lange dachten, zur Wohlstands-Bundesrepublik, die im rheinischen Wiederaufbau und »Nachkriegsrausch« ganz bei sich ist.
Düsseldorf betrachtet Petras als einen Nukleus der Adenauer-Republik, neben Köln, Bonn, Frankfurt. Aus Berliner Sicht markiert die Stadt zugleich einen »der entferntesten Punkte auf unserer Landkarte«.
Grass, mit dem er vor drei Jahren »als geübter Verhandler« Kontakt aufnahm, traf er auf dessen Landsitz bei Lübeck, wo ihm klar geworden sei, dass der Künstler sich dort eine »Ersatzheimat« geschaffen habe. Aber sein Verhältnis zu dem Verlust von Danzig sei »niemals larmoyant, sondern melancholisch: als Sehnsucht nach einem verlorenen Glück«.
Der voll entwickelte Säugling und hellwache Hänfling Oskar ist ein verteufelter Heilsbringer, ist willensstarker Übermensch mit Untermaß, die personifizierte Unnatur und eine Licht-gestalt wie Luzifer. Von Grass wird er keck in die Nachfolge Christi gesetzt, wenn Oskar das Krippenknäblein in der heimischen Herz-Jesu-Kirche zum Mittrommeln auffordert, sich von einer Bande Hehler anbeten lässt und später an der Düsseldorfer Kunstakademie mit der »Madonna 49« in Öl verewigt wird. Die komischen Passagen, gerade diejenigen, die christliche Gemeinschaft ironisieren, will Petras keinesfalls missen.
Mit Oskar gerät die allgemeine Perspektive in Schieflage. Der anarchische Skeptiker und dem Kleinbürgerlichen entwachsene Antibürger Oskar schaut von unten herauf zur erwachsenen Welt, und zugleich auf sie herab und betrachtet Kleingeistigkeit, Miesigkeit und rührende Fehlerhaftigkeit des »mystischen, barbarischen, gelangweilten« 20. Jahrhunderts, wie es bei Grass heißt.
Dem Zuschauer des 20 Jahre nach dem Buch gedrehten Films von Volker Schlöndorff, der dafür die Goldene Palme in Cannes und passend den »Oscar« erhielt, mögen die ersten beiden Teile von Matzeraths Geschichte vertrauter sein, als der dritte Schlussteil, der sich in Düsseldorf zwischen Südfriedhof, Kunstakademie, Altstadt und Gerresheim bewegt.
Armin Petras, der den Roman erst in den frühen Achtzigern las, erzählt, dass »eine Bedingung von Grass darin bestand, nicht mit dem Einschnitt der Stunde Null zu enden«. Auch wenn, zugegeben, die Teile bis 1945 die literarisch und szenisch stärkeren sind. Gleichwohl, »der Schlüssel liegt in den Fünfzigern«.
In das Kleid des Romans passt – wie unter die Falten des Großmutter-Rocks – vieles. Der politische Zeitroman maskiert sich als chronique scandaleuse, als erotisch sinnliches Abenteuer und Poesie des Obszönen, als Scharade und Schelmenstück. Petras, der in dem Erziehungs- und Entwicklungsroman das Erbe von Grimmelshausen bis Goethe wahrnimmt, setzt noch eins drauf. Im Gegensatz etwa zu Alfred Andersch und Heinrich Böll sei dieser Grass in seinem Sprunghaften und auch Nicht-Realistischen tatsächlich so etwas wie »Popliteratur« avant la lettre.
Oskar geht durch die Zeiten, wechselt die zerhauenen Trommeln und Rollen und bleibt sich gleich: »kein Bürger, sondern ein Hamlet, ein Narr«. Er macht satanische Verse und treibt Mätzchen, wenn es um Eros und dessen launischen Herrscherstab geht, bringt die Massen in Bewegung (im Dreivierteltakt), den Einzelnen zu Tode (unter anderem seine zwei Väter) und im »Zwiebelkeller« der Düsseldorfer Altstadt den Menschen »des tränenlosen Jahrhunderts« zum Weinen. Und er demoliert den bürgerlichen Kulturbegriff, nicht allein, wenn er das Dekor des Danziger Stadttheaters zersingt, der von Grass als »dramatische Kaffeemühle« apostrophierten Bildungsanstalt. Dieser rebellisch-humoristische Gestus müsste Petras doch gefallen – »Absolut«.
Armin Petras, geboren 1964 im sauerländischen Meschede, siedelte 1969 mit seinen Eltern in die DDR über; er studierte Regie an der Ostberliner Hochschule für Schauspiel Ernst Busch, war Oberspielleiter am Theater Nordhausen, Schauspieldirektor am Staatstheater Kassel, Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt und Kurator der dortigen Spielstätte Schmidtstrasse12; er inszenierte vielfach am Hamburger Thalia Theater und Deutschen Theater Berlin; seit 2006 leitet er als Intendant das Berliner Maxim Gorki Theater; als Autor (zumeist unter dem Pseudonym Fritz Kater) hat er eine Reihe von Dramen wie »zeit zu lieben zeit zu sterben« oder »Heaven (zu tristan)« geschrieben und diese häufig auch uraufgeführt.
Premiere Ruhrtriennale: 8. September, weitere Aufführungen: 9., 11., 12., 14. und 15. September 2010; Jahrhunderthalle Bochum www.ruhrtriennale.de