Gerade ist Orfeo am Höhepunkt seiner Klage über den Verlust von Euridice angekommen, da steht unvermittelt eine Frau im Publikum auf: »Halt. Stop. So geht das nicht.« Knielanger, grauer Wollrock, flusiger Pullover in Rosa, ein weißer Bubikragen, von ihrer Schulter baumelt ein Lacktäschchen, das ein bisschen nach Wandertag in der Grundschule aussieht. Tante Inge aus Sprockhövel, die heute zum ersten Mal eine Oper besucht und, nicht vertraut mit den Konventionen, sich von ihrem Mitleid überrennen lässt.
Während sie ganz aufgeregt aus der Reihe Richtung Bühne stapft, beginnt sie zu singen. Sie ist nicht irgendwer, sondern Amore. Den treibt ebenfalls das Mitleid an und er bietet Orfeo, dem Inbegriff des Musikers, den hinlänglich bekannten Deal an, mit dem er seine Geliebte zurück bekommen soll.
Das kleine Einmaleins des Regietheaters
Man könnte Kerstin Steebs Inszenierung von Glucks Oper durchaus eine zwar elegante, doch etwas konventionelle Machart nachsagen. Sich bei der Ausstattung – bis auf Amores Kostüm – ganz auf Schwarz und Weiß zu kaprizieren, die Tänzer*innen der hauseigenen Ballettcompagnie als Hüter der Unterwelt in Bondage-artige Kostüme zu stecken und das Geschehen in einem abstrakten, sich zentralperspektivisch verjüngenden Raum spielen zu lassen – das ist das kleine Einmaleins des Regietheaters. So einfach ist es dann aber nicht. Lorena Diaz Stephens und Jan Hendrik Neidert haben den Tunnelraum, an dessen Ende das Licht des Elysiums leuchtet, aus dunkelgrauen, dehnbaren Lamellen gebaut, die interessante Auftritte durch die Wände ermöglichen. Hans-Joachim Kösters beeindruckendes Licht lässt diese Lamellenwände zu einem wandlungsfähigen und irritierenden Bild werden, das an Op-Art- und Zero-Kunstwerke erinnert. Zudem verändert sich die Bühne für die Elysium-Szene vollständig. Auf ebenso einfache, wie überraschende Weise.
Von Anfang bis Ende
Orfeo, gesungen von der Mezzosopranistin Anna-Doris Capitelli, ist bei Kerstin Steeb nicht als Hosenrolle angelegt. Er und Euridice sind androgyne Frauen mit streng zum Zopf gescheitelten Haaren. Lediglich Orfeos Jackett und der lange, weiße Schal Euridices deuten eine Rollenverteilung in der Beziehung an. Dabei ist es zunächst Euridice, die sich äußerst selbstbestimmt gibt. Vor Beginn der Ouverture steht sie an der Bühnenkante und erklärt: »Das Ende gehört mir. Mein Ende gehört mir. Kein Druck von außen. Der Anfang gehört mir. Mein Anfang gehört mir.«
Orfeo will dem ein Ende bereiten, indem er ihrem Mikrofon den Stecker zieht, doch sie lässt es nicht zu. Hat sie sich wohlmöglich für den eigenen Tod entschieden? Am Schluss, wenn gegen jede Abmachung Amore sie wieder ins Leben holt, dreht sie sich um und geht zurück ins Licht. Das etwas schale Happy-End, das Gluck und sein Textdichter Ranieri de’Calzabigi dem Mythos aufpfropften, bleibt aus.
Knapp bemessener Bühnenraum
Neben klugen inszenatorischen Details findet Kerstin Steep auch immer wieder große Bilder. Manche wirken etwas eingezwängt im knapp bemessenen Bühnenraum des Hagener Hauses, in dem neben den Solistinnen auch noch Chor und Ballett Platz finden müssen. Beeindruckend ist, wie gut alle Beteiligten zusammenarbeiten, wie die Choreographie von Ballettmeister Francesco Vecchione, die sich einer zeitgenössischen Bewegungssprache bedient, immer wieder auch die Sänger*innen miteinbezieht. Etwas, das heute nur noch selten auf der Opernbühne zu erleben ist. Haben doch die meisten Ballettcompagnien sich längst emanzipiert und erwirkt, dass sie nicht mehr walzertanzend als Dekoration in Operettenproduktionen herhalten müssen. So verständlich das ist, ist es auch schade, wenn dadurch Opern-Produktionen mit den vollen szenischen Mitteln unmöglich werden. Um so schöner, dass das am Theater Hagen nun gelungen ist.
Gluck war seiner Zeit voraus
Steffen Müller-Gabriel führt das Orchester weitgehend sicher durch die frühklassische Partitur und lässt im Farbenreichtum des Klanges deutlich werden, wie sehr Gluck mit dieser ersten Reform-Oper seiner Zeit voraus war. Cristina Piccardi singt den Amore genau so hemdsärmelig und robust, wie die Inszenierung ihrer Rolle es erfordert, Angela Davis ist eine anrührende Euridice und der Chor unter Wolfgang Müller-Salow bewältigt seine umfangreichen Aufgaben bravourös. Absolut herausragend ist aber die junge Mezzosopranistin Anna-Doris Capitelli, die den Orfeo mit innigem Glanz in der Höhe und einer wunderbar dunklen Färbung in den tiefen Registern singt.
7., 22. und 27. März, 5., 11. und 26. April, 21. Juni 2020, Theater Hagen, www.theaterhagen.de