Theresia Walser ist ausgebildete Altenpflegerin und Schauspielerin. Erfolgreich ist die jüngste Tochter des Schriftstellers Martin Walser aber vor allem als Dramatikerin. Gerade hat sie ihr neues Stück »Kängurus am Pool« fertiggeschrieben. Die Uraufführung dieses Auftragswerks wird die Bayerischen Theatertage am 13. Mai eröffnen. In NRW ist Theresia Walser im Mai zu Gast: Am 20. Mai debattiert sie als Vertreterin des Auswahlgremiums über den Mülheimer KinderStückePreis. Als Autorin war sie selbst mehrfach für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert. Jetzt hat sie im zweiten Jahr als Teil der Jury die Kinderstücke gesichtet. Ein Gespräch über die diesjährige Auswahl, über unsere aktuelle Dünnhäutigkeit und das radikalste Publikum.
kultur.west: Putins Angriffskrieg erschüttert Europa und die ganze demokratische Welt. Schauen Sie zurzeit anders auf Theater, auf Inszenierungen, auf Stücke?
WALSER: Solche Ereignisse verändern die Akustik, wie man etwas wahrnimmt, ob man will oder nicht. Es drängt sich noch stärker in den Vordergrund, wie dünn der Firnis einer Demokratie ist, wie brüchig und fragil unsere vermeintlichen Sicherheiten sind, die wir so selbstverständlich voraussetzen. Das bewirkt eine andere Dünnhäutigkeit, jeden Moment.
kultur.west: Und im Hinblick auf die diesjährige Kinderstücke-Auswahl?
WALSER: In allen unseren diesjährigen Stücken leuchtet auf unterschiedliche Weise hervor, was zu unserem Freiheitsgefühl gehört: die Sehnsucht nach Pluralität, das Durcharbeiten unserer eigenen Existenz, das Aufwühlen von Widersprüchen, die Lust an Konflikten, an Überspitzungen, an irren Übertreibungen. In ihrer Machart, ihrer Sprachgestaltung sind alle diese Stücke vielseitig. Aber das, was sie vereint, kann man jetzt in diesem barbarischen Kontext, in dem dieses Jahr die KinderStücke stattfinden müssen, noch einmal anders erkennen.
kultur.west: In den von Ihnen und Ihren Jurykollegen Thomas Irmer und Werner Mink nominierten Stücken geht es um Themen wie Identitätsfindung, Genderfragen, Demenz. Ich habe den Eindruck, niemand, weder Autor*innen noch Regisseur*innen scheuen es, die großen gesellschaftlichen Fragen auch für und mit Kindern anzugehen.
WALSER: Ja, absolut. Durch meine heute 15-jährige Tochter war ich öfter Begleiterin zu Kinderstücken. Ich dachte schon damals, dass der Unterschied zum Erwachsenentheater nicht groß ist. Letztlich ist man doch hier wie dort auf der Suche nach Stücken, die einen auch formal herausfordern. Man sucht nach der Vielfältigkeit, wie man Geschichten erzählen kann, nach Themen, die groß sind und trotzdem nicht in Belehrung stecken bleiben. Das Kinderpublikum ist so differenziert und radikal in seinen Reaktionen, dass man genau merkt, welche Stücke eher den Kindern entgegenkommen und welche eher Erzieher*innen und Eltern gefallen, weil sie in gewisser Weise zum Schulunterricht tendieren und es ihnen dabei ein Stück weit an Leben fehlt. Dafür haben Kinder ein feines Sensorium. Und es ist die große Kunst, dass man große Themen – fast möchte ich sagen – trickreich erlebbar macht, ohne Zeigefingergefuchtel. Das suchen wir schließlich auch im Erwachsenentheater. Man will nicht im Publikum hocken und abnicken. Man möchte durch die Radikalität der Zuspitzung von Konflikten hin- und hergerissen werden. Das Kinderpublikum ist da oft gnadenlos, manchmal hat es was vom englischen Unterhaus in seiner Turbulenz.
kultur.west: Haben Sie da Besonderes erlebt in Ihrer Sichtungszeit?
WALSER: Man muss leider sagen, dass wir gar nicht so viel im Theater sitzen konnten. Aber immerhin war es mehr als im Jahr davor. Ich erinnere mich an Vorstellungen, in denen Kinder mit Haut und Haar in eine Geschichte hineingezogen wurden, so sehr, dass sie gar nicht mehr sitzen konnten. Es reißt sie buchstäblich vom Hocker. Was will man mehr? Sich als Publikum zu erleben ist ja auch eine gemeinschaftsbildende Erfahrung. Das erlebt man so weder in einer Schulklasse noch beim Fernsehen. Allein die Stille, die ein Kinderpublikum erschafft, wenn es ganz gebannt ist, ist wunderbar!
kultur.west: Sie sind selbst Dramatikerin. Haben Sie das Gefühl, dass sie anders, kritischer auf Stücktexte schauen als Ihre Jurykollegen?
WALSER: Wenn es darum geht, wie weit man den Bereich Kindertheater fasst, stehe ich durchaus dafür ein, Grenzen zu ziehen. Wir haben tolle Aufführungen gesehen, die weit ins Performative reichen. Allerdings rückt dieses Festival die Texte ins Zentrum. Man muss beides voneinander unterscheiden. Es geht nicht darum, dass eine gegen das andere auszuspielen, aber in einem Dramatiker*innen-Wettbewerb muss ein Theaterstück auch rein als Text funktionieren. Das ist natürlich mein Autorinnenblick darauf.
kultur.west: Wie viele Stücke haben Sie denn in diesem Jahr gelesen?
WALSER: 35. Es sind tatsächlich immer um die 30 Stücke. Mich hat gewundert, dass es nicht mehr sind. Was jedoch damit zusammenhängt, dass die Förderung für Kinderstücke so gering ist. Es ist nicht sehr lukrativ, für Kinder zu schreiben. Da wäre einiges zu tun. Zum Glück gibt es die Förderung »Nah dran! Neue Stücke für das Kindertheater«. Wir haben immer Stücke aus diesem tollen Programm in der Mülheimer Auswahl. Da werden Autor*innen gut honoriert. Und da lassen sich dann auch gestandene Autor*innen aus dem Erwachsenentheater verlocken, Kinderstücke zu schreiben. Das finde ich ganz wichtig.
kultur.west: Sie selbst schreiben (bislang) auch keine Kinderstücke. Ist das geringere Honorar ein Grund?
WALSER: Natürlich, als Autorin musst Du immer auch auf den Kontostand schauen. Aber ich war meistens auch in gewissen Partnerschaften mit Theatern, in denen das Kindertheater keine große Rolle gespielt hat. Es hat sich bei mir einfach noch nicht ergeben.
kultur.west: Gibt es in der aktuellen Auswahl ein Stück, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
WALSER: Das möchte ich nicht sagen. Und das könnte ich auch gar nicht sagen. Im letzten Jahr hatte ich einen Liebling. Dea Lohers »Bär im Universum« fand ich wunderbar, ihren fast Billy-Wilder-haften Umgang mit dem Thema Klima. Die Dialoge, die Figuren fand ich großartig. In diesem Jahr kann ich in jedem Stück ein Lieblingsstück erkennen.
Die eingeladenen Kinderstücke:
Sergej Gößner: »Die fabelhafte Die«, Inszenierung: Junges Theater Konstanz (ab 8)
Felix Ensslin mit Galia De Backer und Ninon Perez: »Die seltsame und unglaubliche
Geschichte des Telemachos«, Inszenierung: AGORA, Sankt Vith (ab 8)
Milan Gather: »Oma Monika – was war?«, Inszenierung: Junges Ensemble Stuttgart
(ab 8)
Raoul Biltgen: »Zeugs«, Inszenierung: Plaisiranstalt / STEUDLTENN (ab 6)
Lena Gorelik: »Als die Welt rückwärts gehen lernte«, Inszenierung: Monster Girls /
PATHOS München (ab 7)
Jurydebatte mit Theresia Walser
am 20. Mai, 13 Uhr, im Theater an der Ruhr (auch per Livestream)