Die 48. Duisburger Filmwoche des dokumentarischen Kinos begibt sich auf die Suche nach Hoffnung und Heimat, ihrem Verlust und ihren Grenzen – und erzählt in Person der Hollywood-Legende Henry Fonda die Geschichte Amerikas.
Fremd bin ich eingezogen
Der Eröffnungsfilm: »Dom« (Haus) von Svetlana Rodina & Laurent Stoop
Ein Bahnhof ist der Ort, der Ankunft und Abreise regelt und so eine Grundsituation des Menschen bestimmt und befragt: Wo komme ich her, wo will ich hin, wohin gehöre ich? Manchmal eine Unbekannte, ein schwarzer Fleck. Denken wir an den Anfang von Viscontis »Rocco und seine Brüder«, wenn die süditalienische Familie Parondi im Zug in Mailand einfährt und sich die Bahnhofshalle wie ein riesiges schwarz-weißes Gitter über sie wirft. Freiheit oder Gefangenschaft in der Fremde einer ungewissen Zukunft? Eine 23-Jährige, die für Nawalny gearbeitet hat, verließ ihr Land, auch sie ist Opfer des mörderischen Kriegs, den Putin gegen die Ukraine seit nunmehr 1000 Tagen führt. Mit dem Zug erreicht sie Tiflis, Georgiens Hauptstadt. Unter den Exilanten – junge Leute, Journalist*innen, Oppositionelle, Aktivist*innen, Ex-Häftlinge, Homosexuelle –, die ein Haus bewohnen, wird diskutiert und beratschlagt, sie befragen ihre Handys, verständigen sich in Chatrooms, essen und feiern gemeinsam, versuchen Normalität. Beim Besuch einer ihrer Großmütter zeigt sich, dass die nichts wissen will von den Untaten russischer Soldaten. Die Geflüchteten und Entwurzelten sind der Lebensgefahr entkommen, aber in keiner guten Situation; stigmatisiert, sich einrichtend im Zwischenzustand von Warten, Ungewissheit, Resignation und verzweifelter Revolte. Auf der Straße wird demonstriert für die Ukraine und gegen den »Bastard« Putin. Sie sind nicht unbedingt willkommen dort, wohin sie sich gerettet haben. Die Kamera lässt die Personen ungern los; nur dann, um Stillleben zu platzieren: ein traurig schauendes Hundetier, eine Tür, die ins Freie führt, ein Haufen Schuhe der Neuankömmlinge, ein leerer Tisch mit Stühlen, eine Dekoration mit Lenin-Büste, ein Heißluftballon am Nachthimmel. Die Nachrichten senden Bilder vom Massaker in Butscha. Gräber reihen sich. Bei einer Happening-Aktion legen die russischen Dissidenten sich mit gefesselten Händen draußen hin, um Anteilnahme, Trauer, Wut, Scham zu demonstrieren. Oder sie maskieren sich wie der leibhaftige Tod. Im Hintergrund bellen Hunde, man mag dabei an Schuberts Liederzyklus der »Winterreise« denken mit dem einsamen Wanderer, der seines Weges zieht.
Ein Film wie das Gedicht von Thomas Brasch (1977)
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin
4. November, 19 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Rudelbildung
»Dreaming Dogs« von Elsa Kremser & Levin Peter
Als in Moskau Fabriken schlossen und die Arbeiterschaft abzog, blieben streunende Hunde auf den verlassenen Geländen zurück. Als aber die Menschen zurückkehren in die abgelegenen, von der Natur schon überwucherten Hallen, weil Russland sich verändert hat und sie nur dort Obdach finden, treffen sie auf die Vierbeiner als Platzhalter. Das Lagerfeuer aus zusammengeklaubten Brettern und Ästen spendet etwas Wärme. Die Unterstände schützen kaum vor Wind und Wetter. Die Winter sind hart. Beim Schlafen rückt man nahe zusammen. Nur den Wodka teilen sie nicht. Im Unterholz graben Hund und Mensch nach altem Metall, um es nach Kilopreis zu verkaufen. Mensch und Tier werden Kameraden und bilden als Notgemeinschaft gewissermaßen ein Rudel. Kein romantisches Idyll, vielmehr Utopie und Dystopie zugleich. Eine Welt jenseits des Roten Platzes mit seinen Aufmärschen und Propaganda-Parolen. Als ihre Bezugsperson in der Stadt übernachten will, trotten sie folgsam mit, harren aus vor verschlossener Tür und kehren allein zurück in ihr Behelfsheim, spürbar den Zuruf ihres Frauchens erwartend.
5. November, 20 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Vom Ende Europas
»Dear Beautiful Beloved« von Juri Rechinsky
Abschied. Es ist kein Bleiben im Nichts, das bisher Heimat war. Halbzerstörte Wohnungen in entleerten Häusern, Städten und Dörfern. Müde, mürbe gemachte, kranke, kaum bewegungstüchtige Menschen. Von weitem dröhnen Geschütze und Explosionen, tönen Sirenen. Freiwillige, Helfer*innen teils aus Westeuropa, organisieren den Transfer mit Bussen oder der Bahn, zu Fuß, in Kinderwagen, Rollstühlen, auf Bahren in sicheres Terrain der Ukraine. Oder über die Grenze, wer weiß, wohin. Flucht vor Russlands Aggression, vor dem Krieg Putins, der dem ABC des Menschenanstands spottet. Schicksalsergebene, oft erstarrte Männer und Frauen in Auffanglagern, Wartesälen, überfüllten Notunterkünften, die ihre Geschichten erzählen, in wenigen Habseligkeiten kramen, denen das Haar frisiert wird, die Bekanntschaft schließen oder am liebsten im Jenseits wären, wie jemand sagt. Zugleich wendet sich der Film der Front zu, wo verbrannte Panzer wie hilflose Insekten auf dem Rücken liegen, Tote geborgen, registriert, bekleidet und gesäubert und in Plastiksäcken gestapelt werden, bevor sie in Lastwagen, Leiche um Leiche, »heimkehren« zu den Klagen der Familien. Woanders erwarten Soldaten den Kampf. In jedem der Gesichter erblicken wir die Gesamtheit der ukrainischen Leiden. Eine Chronik, die jetzt und in künftigen Zeiten vom Ende des uns vertrauten Europa kündet.
6. November, 20 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Notstandsgebiet
»Landschaft und Wahn« von Nicole Vögele
Als sich das Dunkel lichtet, sehen wir waldiges Gelände, das fernab ein Zug Menschen durchquert. Es liegt etwas in der Luft, weniger beschaulich als bedrückend. Der Film nimmt sich Zeit, scheint still zu stehen in seiner Betrachtung der Natur, der Überreste und Spuren menschlicher Anwesenheit (im Erdreich liegen verstreut Passfotos, Handys, Kleidung, des Nachts blinkt das Rot von Autoleuchten), und einer dörflichen Besiedlung mit Moschee und Minarett. Hier, im Grenzgebiet von Bosnien-Herzegowina und Kroatien, wo noch Minenfelder abgesperrt werden und verbrannte Panzer aus dem Balkankrieg liegen, sind Asylsuchende untergebracht in einem Elendsquartier. Männer, Frauen, Kinder aus Afghanistan, Kurden aus der Türkei und von anderswo finden sich wieder im Unwirtlichen eines Notbehelfs. Während Einheimische empathisch und hilfsbereit reagieren und Aushilfsjobs verschaffen, harren die Meisten aus im Wartestand, die Abweisung vor Augen und mit wenig Hoffnung auf Weiterkommen in der EU. Am Ende tauchen neue Ankömmlinge auf. Der Film ist eine Protestnote. Beherrscht beobachtend und deshalb so beklemmend.
7. November, 20 Uhr, Filmforum am Dellplatz
Der aufrechte Amerikaner
»Henry Fonda for President« von Alexander Horwath
Schauspielerlegende und einer der ewigen Stars Hollywoods in mehr als 100 Produktionen, Inbegriff des anständigen, ehrenhaften Amerikaners, nicht nur in seiner Rolle als junger Abe Lincoln: Henry Fonda (1905-1982), Vater von Jane und Peter Fonda. Kurz vor seinem Tod gab er dem Journalisten Lawrence Grobel ein mehrtägiges Interview; es ist Ausgangsmaterial für Alexander Horwaths dreistündigen Essay. Eine ingeniöse Collage aus Filmszenen und ikonischen Momenten, Analyse der Spielhaltung und steifbeinigen Körperkunst Fondas sowie des Fremdseins, der Scheu, Selbstzweifel und Gewissenhaftigkeit seiner Figuren, Reflexion des österreichischen Filmhistorikers Horwath und Amalgam aus Politik, Patriotismus, Messianismus, Pathos und Showbiz. So wird etwa Fonda dem ‚realen’ Präsidenten Reagan entgegengestellt, erzählt sich die Familienchronik der niederländischen Fondas nach, die als Pioniere und künftiger amerikanischer Uradel in die Neue Welt auswanderten, werden Männerbilder und Freiheitsversprechen durchmustert, kommen Tocqueville, Margaret Fuller, Hannah Arendt zu Worte. Eine groß angelegte kluge Künstler-Biografie als Biografie seines Landes und als Kultur-, Demokratie-, Gewalt-, National- und Mentalitätsgeschichte. Fondas Präsidentschaft wäre mehr gewesen als ein Gag.
5. November, 15.30 Uhr, Filmform am Dellplatz
4. bis 10. November
Filmforum am Dellplatz