Es gibt sie, diese irritierenden Momente einer Beziehung. Etwa, wenn man zu Gast bei den Eltern des anderen ist und feststellt: Ja, auch in dieser Familie wird Grünkohl gegessen. Aber, bitte, doch nicht so! Zusammengemanscht hatte das Gemüse auf dem Teller von Jan Philip Scheibe gelegen – und nicht so wohlgeordnet von Wurst und Kartoffeln getrennt wie bei ihm daheim. Die kleine Szene aus dem Hause seiner Lebensgefährtin Swaantje Güntzel zeigte: Essen hält nicht nur Leib und Seele, sondern manchmal auch ganze Familien zusammen. Wie was zubereitet wird, oft schon seit Generationen, hat mit Traditionen, Ritualen und (Geschmacks-) Geschichten zu tun. Und damit einiges mit diesem Festival, das sich »Saisonale« nennt und das Kloster Gravenhorst in den Sommermonaten in ein regelrechtes Experimentierfeld verwandeln will. Um den Dingen auf den Grund zu gehen: dem Areal rund um das einstige Zisterzienserinnenkloster im Tecklenburger Land. Dem Wandel der Welt, aber auch der Kulturgeschichte Westfalens.
DA – das steht für Denkmal und Atelier
Seit Jahren schon sind Stipendiaten für Kunstkommunikation in Hörstel zu Gast. In diesem Jahr nun kommt die »Saisonale« als »Kloster.Garten.Kunst«-Format hinzu. Sie holt temporäre, zeitgenössische Projekte ans Kunsthaus, das den etwas kryptischen Vorspann »DA« im Namen trägt. »Er steht für Denkmal und Atelier«, erklärt die Leiterin Berit Gerd Andersen, die die neue »Saisonale« mit der Berliner Künstlerin An Seebach entwickelt hat. Ein historischer Klostergarten ist das Areal aber keineswegs. Eher ein schlichter, großer, grüner Außenraum mit Streuobstwiesen, Gräfte und Skulpturen, die Künstler dort installiert haben.
Drei Jahre gibt das Land nun Geld, um neben dem Stipendiatenprogramm viele weitere Künstler einzuladen. Geplant sind Recherchen etwa zur Geschichte des Klostergartens oder dass Katerina Kuznetcowa und Alexander Edisherov ihren »Himmelstisch« von 2014 um ein Liegeplateau für »kollektive Wolkenreisen« erweitern. »Nature Listening« heißt das Thema 2019 – da liegt es nahe, dass das Kunsthaus auch mit dem Klang-Kunst-Festival »Soundseeing« kooperiert. Erschlossen wird das Klostergrün aber nicht nur akustisch, sondern auch visuell. Oder besser: mit allen Sinnen. Swaantje Güntzel und Jan Philip Scheibe wollen den Besuchern ein Stück Erinnerungskultur auf die Zunge legen, denn ihr Grünkohlprojekt lebt auch von ihnen, ihren Erzählungen und Rezepten.
Welche Rolle spielt Essen in unserer Gesellschaft?
2017 hatte das Hamburger Künstlerpaar einen »Krisengarten« am Kloster Bentlage angelegt. Aus einem Samenpaket, das oft »Prepper« für sich ordern – um im Fall eines Krieges oder einer Umweltkatastrophe abgesichert zu sein. »Unter den 22 Gemüsesorten hatten die Menschen am emotionalsten auf den Grünkohl reagiert«, erinnert sich Swaantje Güntzel. So war klar: Er würde Teil einer nächsten Arbeit werden – nun in Gravenhorst. »Preserved«, zu deutsch »gut erhalten«, heißt das Langzeitprojekt, mit dem das Paar schon Stationen in Skandinavien gemacht hat, um sich etwa mit asiatischen Beerenpflückern in Finnland zu beschäftigen oder Waffeln aus Instant-Food auf dem feuerbeheizten Herd eines schwedischen Heimatmuseums zu backen. Die Leitfragen sind immer anders und dann doch gleich: Welche Rolle spielt Essen in Krisenmomenten oder Zeiten großen Wohlstands? Wie haben sich die Menschen früher ernährt – und welche Auswirkungen hat das auf die Generationen nach ihnen? Auch Klostergärten waren immer Orte des Wissenstransfers. Sie dienten der Ernährung und zugleich als Labor, in dem experimentiert, optimiert, gekreuzt, gezüchtet und geerntet wurde.
Mit Natur und Landschaft beschäftigen sich beide Künstler schon seit langem. Gemeinsam, aber auch jeder auf seine Art: Swaantje Güntzels Installationen, Performances und Fotos setzen sich oft mit unserem heute immer befremdlicheren Umgang mit Lebensmitteln auseinander. Dafür arrangiert die gebürtige Soesterin schon mal eingeschweißte Discounter-Lebensmittel zu barocken Stillleben oder lässt napoletanische Müllberge auf dekorative Sammelteller malen. Zurzeit arbeitet sie an einer Fotoserie für die Meeresschutzorganisation »Ocean Now«, für die sich Prominente wie der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar oder den Schauspieler Dieter Hallervorden mit Mikroplastik im Gesicht fotografieren lassen. »Ich bin keine Aktivistin«, sagt Güntzel, aber eine Künstlerin, die durchaus politisch arbeite. Schmerzhaft schön wirkt das Foto einer frisch gefangenen Scholle – bedeckt mit einer Glitzerschicht aus den Mikropartikeln von Schönheitsprodukten, die unsere Meere verschmutzen. Dass die Welt in Plastik ertrinkt ist für sie kein Trendthema, sondern seit zehn Jahren Ausgangspunkt ihrer Kunst.
Ein Gravenhorster Grünkohlfeld
Jan Philip Scheibe kommt aus Lemgo und macht Verborgenes nicht ohne Ironie und Melancholie sichtbar, in dem er Landschaften decodiert, vergessene Wegeführungen und ihre Geschichte(n) aufspürt. Dafür beleuchtet er schon mal abseitige Waldstücke mit Leuchtschrift, durchwandert mit einer Straßenlaterne das Watt, setzt Licht in Plastiktüten – oder bald auf das Gravenhorster Grünkohlfeld: Bevor in einigen Monaten der Acker abgeerntet und ein großes Essen organisiert wird, will er die fast 3000 Pflanzen in eine leuchtende Biomasse verwandeln. Durch Leuchtstoffröhren soll der Grünkohl zu einer riesigen Skulptur werden – bereit zum Verzehr.
Davor sind einige Aktionen am ehemaligen Zisterzienserinnenkloster geplant: Wie entwickelte sich die bäuerliche Selbstversorgerkultur Westfalens zur Plastik-Discounter-Konsumentenmasse, in der es oft kein Wissen mehr über ursprüngliche Anbaumethoden oder die einstigen Sorgen und Nöte der Großeltern gibt? »Grünkohl kam früher nahezu täglich auf den Tisch«, sagt Güntzel. Zermanscht oder ordentlich von Würsten und den Kartoffeln getrennt? Ganz sicher ein letztes Mal eine Woche vor Gründonnerstag, dann war die Saison vorbei. Solche Dinge erfährt die Künstlerin und Ethnologin nur mithilfe von Komplizen: Für das »Preserved«-Projekt in Gravenhorst hat sich Swaantje Güntzel mit den Steinfurter Landfrauen, dem Freilichtmuseum Detmold und der Volkskundlichen Kommission Münster zusammengetan. Um mehr zu erfahren über die Palme des Nordens. Über das Superfood, made in Westfalen.