Arbeiten an einer neuen Wirklichkeit – das will die neue Doppelspitze des Schauspiels Essen. Selen Kara und Christina Zintl haben ihre Intendanz mit dem Motto »Neues Deutsches Theater« überschrieben und für die jetzt beginnende erste Saison den Zusatz »under construction« (»im Aufbau«) hinzugefügt.
Nach zehn Jahren beerben die beiden Christian Tombeil, der am Grillo-Theater das Gegenprogramm zu Johan Simons in der Nachbarstadt bot: Er wurde nicht zum Liebling des überregionalen Feuilletons oder räumte in Windeseile alle wichtigen Theater-Preise ab. Dafür war er in der Stadt extrem beliebt, in den vergangenen Jahren schaffte er gerne mal Auslastungszahlen von 80 Prozent und mehr. Die Fallhöhe ist also hoch, auf die sich das neue Duo begibt. Wie schwierig ihr Drahtseilakt ist, kann ein Blick nach Dortmund offenbaren.
Dort ist 2020 Julia Wissert nach der extrem erfolgreichen Intendanz von Kay Voges am Schauspielhaus angetreten, um alles anders zu machen. Sie stand oder steht immer noch für den Versuch, ein völlig neues Publikum ins Haus zu holen. Sie spricht explizit Menschen an, die sich mit Begriffen wie queer oder feministisch oder PoC (Person of Color) identifizieren, will die Diversität der Stadtgesellschaft auch im Theater realistisch abbilden. Die Anfangsschwierigkeiten, die Corona allen Häusern und einer beginnenden Intendanz ganz besonders gebracht hat, hat sie immer noch nicht überwunden. Das Schauspiel Dortmund ist laut der lokalen Presse momentan das am schlechtesten besuchte Haus in der Region.
Da könnte das Motto »Neues Deutsches Theater« also ein schlechtes Omen sein. Vor allem von Selen Kara ist allerdings bekannt, dass sie es in der Vergangenheit wirklich geschafft hat, neues Publikum in die Stadttheater zu locken, an denen sie gearbeitet hat. Der musikalische Abend »Istanbul« mit Liedern von Sezen Aksu war nicht nur in Bochum ein großer Erfolg, sondern auch in Bremen und Mannheim. Und trotz – oder gerade wegen – ihres deutsch-türkischen Hintergrunds mag sie sich nicht auf Migrationsthemen festlegen oder darauf, sich vor allem um die türkische Community zu kümmern. Für den (wieder musikalischen) Abend »Mit anderen Augen« am Schauspielhaus Bochum beschäftigte sie sich mit der Situation von Sehbehinderten – und landete einen riesigen Spielplan-Hit.
Kindermann übernimmt musikalische Leitung
Dass sie gerne musikalische Abende inszeniert, hat damit zu tun, dass ihr Partner Torsten Kindermann (Theater-)Musiker ist. Am Schauspiel Essen wird er musikalischer Leiter, ein Amt, das er in Bochum jahrelang mehr als erfolgreich ausgeführt hat. Deshalb muss man die neue Essener Intendanz nicht bloß als Duo aus der Regisseurin Selen Kara und der Dramaturgin Christina Zintl, sie sich 2019 bei einer gemeinsamen Arbeit in Darmstadt kennenlernten, denken. Torsten Kindermann gehört genauso zum Kernteam wie Maximilian Löwenstein, der einen Schwerpunkt Digitales leitet.
Was verbindet die beiden Frauen an der Spitze? »Ich glaube, es ist die Vorstellung von einem über die aktuellen Diskurse informierten, zeitgenössischen Theater, das empathisch ist für die Stadt und ihre Menschen«, sagt Christina Zintl. »Ein Haus für alle« soll es sein, »kein Nischentheater. Ein Haus im eigentlichen Sinne von Stadttheater, das Menschen zusammenbringt, das Gemeinsamkeit stiftet, versucht, eine Art dritter Ort zu sein. Begegnungsformate, offene Türen sind genauso wichtig wie gute Kunst.«
Eine Gretchenfrage dieser Zeit ist dazu diese: Wird die neue Intendanz gendern? Allein dadurch schafft man es unter Umständen ja schon, ganz engstirnige Theaterbesucher*innen fernzuhalten. »Die Diskurse können heute sehr polarisierend sein«, gesteht Selen Kara ein. »Aber ich frage mich: Wie schafft man es, die Menschen wieder zusammenzubringen?« Deshalb will sie keine klaren Trennungen im Programm nach dem Motto: Hier ist der deutsche Klassiker, da die feministische Perspektive. »Wichtig ist uns außerdem, dass wir keine Regeln aufstellen: Nur, weil wir gendern, müssen nicht alle, die ins Grillo kommen, das auch tun.«
Nichtsdestotrotz werden die Menschen, die sich bereits vom Gendern bedroht fühlen, vielleicht mit den Augen rollen, wenn sie lesen, wie die Eröffnungsinszenierung heißt: »Doktormutter Faust« hat am 9. September Premiere und ist eine Uraufführung, eine Überschreibung von Goethes Klassiker von der Schriftstellerin und Journalistin Fatma Aydemir. Selen Kara, die zuletzt ihren erfolgreichen Roman »Dschinns« für die Bühne adaptiert hat, hat sie gefragt, ob sie nicht einen deutschen Klassiker bearbeiten möchte. Sie wollte – und zwar am liebsten den »Faust«.
Professorin Faust
Die neue Intendantin war von der Idee erst gar nicht begeistert, aber ließ sich mehr und mehr überzeugen. Aydemir fand, dass er gut in eine Zeit passe, wo der Rechtspopulismus in Europa erstarkt, man in Polen wieder das Thema Abtreibung diskutiert. Faust ist bei ihr eine Professorin. An den Universitäten, die nach wie vor sehr hierarchisch organisiert sind (und Professoren sind dort eben »Doktorväter«), stünde sie also ganz oben. An der Frage, wie man da die Gretchenfigur noch integrieren kann, hat sich die Autorin unter anderem abgearbeitet.
Selen Kara und Christina Zintl setzen in ihrem Eröffnungspremieren-Reigen allerdings ein weiteres deutliches Zeichen: Auch (alte, weiße) Männer sind willkommen! Es gibt sogar explizit ein Stück, das sich mit ihren Problemen beschäftigt: In »Rausch« von Thomas Vinterberg – einer Adaption des vor kurzem erst gelaufenen Kinofilms – geht es um eine Gruppe Männer in der Midlife-Crisis, die sich an ein Experiment mit Alkohol machen: Sie versuchen, ständig einen gewissen Pegel halten und so angenehmer durch das Leben zu kommen. Inszenieren wird Armin Petras, einer der großen, älteren Regie-Männer in der deutschsprachigen Theaterszene.
Dieser Umstand hat in den verqueren, aktuellen Diskussionen also vielleicht genauso eine große Signalwirkung wie die Tatsache, dass es vom Schauspiel Essen ein großes partizipatives Projekt nach »Romeo und Julia« mit Schulen aus Essener Norden geben wird, dass der Beirat »Critical Friends« das Spielzeitgeschehen begleitet und mitbestimmt. Dass Akin Şipal eine Art Artist in Residence wird oder Hierarchien neu gedacht werden mit Versammlungen und Beteiligungsstrukturen für alle Mitarbeiter*innen des Theater. Es soll eben wirklich ein Haus für alle werden – nach außen und innen.
»Doktormutter Faust«, 9. September (Premiere),
»Rausch«, 23. September (Premiere),