»Deine Heimat braucht dich jetzt«, steht auf dem rot-blauen Wahlplakat und verlangt nach dem Kreuz der nationalen Gesinnung. Das ist die eine Perspektive, die des Ausschlusses. Zu ihr gehört eine Gruppe Halbwüchsiger, die im Freibad herumlungern und »Ausländer« auf dem Kieker haben, die mit den Mädchen anbändeln. ‚Reinrassige’ Österreicher, was nicht unbedingt einen stromlinienförmigen Körperbau bedeutet. Klar, dass hier der coole Blonde mit dem Tattoo das Sagen hat und das große Wort führt: fitnessstudio-gestählt. Marcel (Alexander Srtschin) bewirbt sich beim Begleitschutz Pegasus, aber wird als 17-Jähriger abgelehnt. Jetzt will er, statt zuhause abzuhängen, seinen eigenen Schutztrupp aufbauen, um Frauen vor dem Zugriff der Fremden zu bewahren. Sie ziehen sich zu Carl Orff Bier rein und spielen Hell’s Angels. Aber eigentlich ist Marcel ganz anders.
Marie, eine junge Wienerin (Verena Altenberger), kommt in einem Refugee-Camp auf Lesbos an, um zu helfen: Hier ist der Ernstfall, hier gilt es, die Rettung von Boatpeople aus dem Mittelmeer zu bewerkstelligen, wobei ihre übersprudelnd-naive Euphorie und Ambition an der Realität aufläuft, wenn etwa das NGO-Schiff von den Behörden als »kommerziell« eingestuft und still gelegt wird und Marie sich selbständig auf Kurs bringt.
Die Fernsehredakteurin Petra (Barbara Romaner), sanft und verständnisinnig, christlich bewegt, kulturell beflissen und engagiert, ganz auf der Theorie- und Diskurshöhe, aber nicht praxiserprobt und -erfahren, nimmt einen 17-jährigen Geflüchteten auf, von dem sich herausstellt, dass er schon 22 ist, ein junger Ehemann und Vater und nicht aus Syrien, sondern aus Marokko stammt. Nicht Mohammed, sondern Mansur (Mehdi Meskar). Eine falsche Biografie, um eine bessere Bleibe-Chance zu haben. Sie kümmert sich und tut das Ihre, um ihn vertraut zu machen mit einem künftigen Leben im neuen Land, aber lässt bald ihre an eigenen Erwartungen und ihrem Besitzanspruch geschärften Spitzen los. Beim gemeinsamen Besuch einer Ausstellung mit Gemälden von Egon Schiele tun sich grundlegende Differenzen in der Betrachtung auf. Es bleibt nicht bei dem einen Disput.
Alltagsszenen, Spannungen und Widerstände, Provokationen, Misstrauen in einem Asylbewohnerheim, wo der Hausleiter Gerald mit viel Geduld, aber auch mit pädagogischem Eifer der Aufsässigkeit, Unruhe und vielfachen Überforderung begegnet, wo viele junge Männer auf einem Fleck sitzen, die an ihren Biografien tragen. Die Szenen des ineinander gefügten Episoden-Quartetts ergeben ein fein geschliffenes Kaleidoskop sozialer Befindlichkeiten, Milieus und Haltungen, von der empathischen und paternalistischen bis zur hyperaktiven und aggressiven – und sind im Ergebnis: eine europäische Elegie, ebenso eine Komödie der Wirrungen, ein Lehrstück und Drama des Einander-Nichtverstehens. Der gute Wille allein reicht nicht, damit aus »Me« das »We« wird. Am »Wall of Hope« kann man sich stoßen, kann zerschellen, kann an ihm opfern oder Opfer werden oder das Niemandsland davor überwinden.
»Me, We«, Regie: David Clay Diaz, Österreich 2021, 115 Min., Start: 6. Oktober