Bevor sie ab der Saison 2023/24 als Teil der neuen Doppel-Intendanz am Schauspiel Essen antritt, wollte Regisseurin Selen Kara gern noch ein Stück im Theaterrevier, dem Ort des Jungen Bochumer Schauspielhauses, realisieren: Das Auftragswerk »Mädchenschrift« ist kein netter Abend über das Heranwachsen eines jungen Mädchens zur Frau. Es verhandelt in aller Kürze direkt und schonungslos die Themen Sexualisierung und sexuelle Belästigung.
Menschen, die von den Entwicklungen ihres jungen Körpers überrascht werden und mit dem Kopf manchmal kaum hinterherkommen, haben für diese Themen oft noch keine Sprache. So geht es auch der Figur, die Romy Vreden in diesem Solo verkörpert. Das Bühnenbild von Lydia Merkel, in dem sie agiert, besteht aus mit weißem Stoff verhängten Vitrinen – und so wie das Publikum nicht weiß, was es hinter den Verhüllungen erwartet, so weiß auch Romy Vredens Protagonistin nicht, wie ihr geschieht: Auf einmal wachsen ihr Brüste, spielerisch dargestellt durch eine Oberkörper-Plastik mit Oberweite zum Aufpumpen. Auf einmal bekommt sie ihre Periode.
Auf einmal kommen ganz andere Blicke und Kommentare als früher. Die Schauspielerin läuft dann Konfetti schmeißend durch den Raum und erzählt von den Mitschüler*innen, Eltern, Onkels und Tanten, die sie auf ihre Menstruation ansprechen, ihr zur quasi neuen Errungenschaft gratulieren. Aber eigentlich würde sie sich am liebsten vor aller Welt verstecken und kriecht in eine Vitrine wie zurück in den Mutterleib, der sie in diese Tortur geboren hat.
Man merkt dieser Uraufführung durchaus an, dass sie aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt wurde. Das Team um Selen Kara hat den Text, den die Autorin Özlem Özgül Dündar als Auftragswerk geliefert hat, angereichert mit Passagen, die aus Gesprächen mit der Drama Control hervorgingen – das ist die Gruppe junger Menschen, die die Geschicke des Theaterreviers zusammen mit der künstlerischen Leiterin Cathrin Rose bestimmen.
Blicke beim Baden
Offenbar kannten vor allem die weiblichen Mitglieder nur allzu gut Situationen, in denen sie sich in ihrer Haut nicht wohlgefühlt haben. Romy Vreden markiert sich als 13-Jährige, erzählt von männlichen Blicken beim Baden, die sie nicht nur streifen, sondern die regelrecht an ihr kleben, die ihr unangenehm werden, weil sie sie nicht abschütteln kann. Es sind Blicke, die sie sexualisieren, also nicht als Menschen betrachten, sondern als Objekt der Begierde.
Später, die Bühnenfigur ist 15 Jahre alt, bemerkt sie beim Stehen in einer Schlange auf einmal eine Hand auf ihrer Hüfte und ist wie gelähmt, unfähig zur Reaktion: Kann die bitte mal jemand da wegnehmen? Wie ihre Figur es schafft, Mut und Selbstbewusstsein zu gewinnen, wird zwar nicht ganz klar. Aber am Ende versteckt sich Romy Vreden nicht mehr, sondern zeigt sogar immer mehr von ihrem Schwarzen Körper, der nicht ganz zu den in unserer Gesellschaft gängigen Schönheitsidealen passt.
So ist »Mädchenschrift« zuallererst ein Aufklärungsstück für jungen Menschen. Es will ihnen eine Sprache für Sexualisierung und Übergriffe an die Hand geben oder ihre Perspektive erweitern. Eine Inszenierung, für die Selen Kara ihre Theaterkunst einem auch pädagogischen Auftrag untergeordnet hat.
Für Menschen ab 13 Jahren
27. und 28. Oktober
Theaterrevier, Bochum
www.theaterrevier.de