TEXT NICOLE STRECKER
Alles viel zu »2D« im zeitgenössischen Tanz. Gewusel in der Tiefe des Raums, Gewusel über die Breite. Aber in der Höhe, weit über den Köpfen der Tänzer – da passiert normalerweise wenig. »Da stehe ich!«, sagt nun Florian Patschovsky von der Formation »Overhead Project«, einem Tänzer- und Choreografen-Duo aus Köln. Einen Meter und 73 Zentimeter groß, 60 Kilogramm leicht. Muskulöser nackter Oberkörper, blaue, glänzende Seidenblouson-Turnhose. In hysterischer Siegerpose steht er auf den Schultern seines Kollegen Tim Behren und feiert sich selbst, den über sich selbst hinausgewachsenen Helden. Feiert im »Carnival of the Body« den neuen Menschen als Doppelkreatur. Zwei Körper, die vor zehn Jahren beschlossen haben, zusammenzugehören.
2007 lernen sich Behren-Patschovsky kennen. Behren studiert an der L’Ecole supérieure des arts du cirque (ESAC) in Brüssel, eine der renommiertesten Hochschulen in Europa für Zirkuskünste. Er weiß damals schon, dass er Klischees brechen, Traditionelles hinterfragen will. So sucht er nicht nach einer leichten Frau, um das Studienfach Partnerakrobatik zu belegen. Behren, der »Untermann«, wie es im Deutschen unbeholfen heißt, will einen »Obermann«.
In Köln trifft er Florian Patschovsky, der gerade seinen Zivildienst beim Spielecircus absolviert. Sie binden ihre berufliche Zukunft mit Leib und Seele aneinander – werden ein Akrobatenpaar. »Porteur« und »Voltigeur«, der Tragende und der Fliegende – so wohlklingend sind in Frankreich die Begriffe für die Rollen. Das Nachbarland ist ohnehin in allen Zirkusbelangen avantgardistischer, ebenso die ESAC, die sich längst für Schauspiel und Tanz geöffnet hat. In Deutschland hingegen dominieren nach wie vor Traditionsunternehmen wie Circus Roncalli oder die auch im Ruhrgebiet stark präsente GOP-Varieté-Kette das Genre. Auch deshalb hätten sie sich vom Zirkus abgewandt, sagt Behren. »Uns hat dieser Eventcharakter gelangweilt. Tricks zeigen, sich Selbstdarstellen, den Foucault’schen disziplinierten Körper, darum geht es doch im Zirkus, im Sport letztendlich.«
Sie stapfen brüllend mit geschwollenen Halsschlagadern auf die Bühne. Klatschen sich auf die nackten Oberschenkel, bis sie blutrot leuchten. Zwei testosterondampfende Muskelmonster in »Carnival of the Body«, ihrer ersten abendfüllenden Produktion. Darin entlarven sie den Schaukampfsport Wrestling mit akrobatischen Mitteln als traurig-trashige Körperschinderei wie einst Mickey Rourke in Darren Arronofskys Film »The Wrestler«. Seither gilt das Team als Shootingstars der Szene: Engagements als Akrobaten-Tänzer, Choreografien für Stadttheater-Kompanien in Bern, Heidelberg sowie demnächst Bielefeld und die Produktion von eigenen Stücken.
Schon in den 1980er Jahren hatte der Flame Wim Vandekeybus das Verständnis vom zeitgenössischen Tanz mit seinem akrobatischen Stuntmen-Stil attackiert. Ziegelsteine, Speere, Körper – alles wurde bei ihm mit hartem Wurf über die Bühne geschleudert. Beim »Overhead Project« geht es ähnlich riskant und brutal zu, auch dann, wenn sie Frauen in ihre Stücke integrieren. Wie in »Before Morning«. Florian Patschovsky und Marion Dieterle tanzen in einer Choreografie von Reut Shemesh ein Liebesduo, nein: Hassliebesduo. Fleisch, das klatschend aufeinandertrifft, hechelnder Atem. Patschovsky packt Dieterle, knallt ihren Brustkorb wieder und wieder gegen die Wand, ein dumpfes Geräusch wie ein Beat. Sie nähern ihre geöffneten Münder, doch statt sich zu küssen, singen sie einen endlos langen Ton in den Rachen des anderen hinein wie für eine abstruse Balz-Arie. Über den Köpfen fliegen darf Voltigeur Patschovsky in der Liebes-Scheiter-Studie nicht. Aber fallen. Knochenbrecherisch hart und unvermeidbar.
VORSTELLUNGEN: 24. UND 25. MÄRZ 2017
IN DEN EHRENFELDSTUDIOS KÖLN.