// Man könnte ihn Herbert Pan nennen. Sein Stammbaum wurzelt bei dem bocksbeinigen, triebversessenen Gott und dessen Nachkömmling, dem ewig unschuldig ungehemmten Spielkind aus Nimmerland, das sich dem Erwach- sen-Werden verweigert. Herbert Fritsch, wie er sich unverschämt herausfordernd grinsend eine Boa Constrictor um den Leib geschlungen hat: Diese Schlangenbeschwörungs-Nummer gehört zu den Ikonen der Berliner Castorf-Volksbühne, war einer der Schaueffekte in dem unmöglichen, unvergleichlichen Doppelabend »Pension Schöller / Die Schlacht«, zeigte den Schauspieler als Naturkatastrophe.
Aber eigentlich ist er anders. Aber wann ist er »eigentlich«? Auf der Bühne oder im Alltagszustand. »Ich will geliebt werden. Ich will Herbert Fritsch sein – und nicht der Volksbühne-Schauspieler genannt werden.« Als der ist er dennoch ein Begriff des Theaters der 90er Jahre. Ein Sensationsdarsteller mit der Eleganz und Expressivität eines Conradt Veidt und der Elastizität von Spiderman. Die theaterweit berühmten »Fritsch-Fratzen« sind schon als Stichwort in seinen eigenen »Angst«-Abend eingegangen, den er und seine Kollegin Sabrina Zwach als »performatives Konzert über den schlechtesten Berater unserer Zeit« geben und scherzend mit dem Hinweis bewerben, dass sie bei der Bundeskulturstiftung einen Antrag gestellt hätten, um zehn Jahre ohne Publikum spielen zu können.
All die Charaden und Faxen, Lebensloops, Nervenkriege, Übersprung-Handlungen, Zitterpartien, Verzweiflungstaten und Permanenzkrisen des Kaskadeurs lassen sich kaum fassen. Fritsch weiß um die Angst des Komikers vor dem Lachen. Die Gewissheit, im Brennpunkt der Blicke zu sein, spitzt ihn ebenso an wie sie ihn verstört. Was wiederum als Kunststück kreativer Energie von hoher Wirkung ist, aber als Lebensprogramm für ihn selbst – und andere – nicht ohne Risiko und Nebenwirkungen.
Herbert Fritsch ist jetzt in Oberhausen, wo er am Theater zum Saisonauftakt Molières »Tartuffe« inszeniert hat. Wie das? Er kennt den neuen Intendanten Peter Carp lange und hat schon an dessen vorheriger Wirkungsstätte, in Luzern, als Regisseur gastiert. Und seither mehrfach die Rollen vertauscht, von denen er ohnehin noch ein paar mehr in petto hat: Medienkünstler, Filmemacher, Autor und Zeichner.
1951 in Augsburg geboren, ausgebildet an der Falckenberg-Schule, war Fritsch u.a. in Stuttgart und Basel, am Münchner Residenztheater und am Düsseldorfer Schauspielhaus unter Volker Canaris engagiert, bevor Frank Castorf ihn an seine Volksbühne nach Berlin holte, wo er seither mit Frau und Sohn nicht weit vom Dorotheenstädtischen Friedhof lebt und ein Dutzend Mal mit dem Intendanten, aber ebenso mit Schlingensief, Thomas Bischoff und besonders Dimiter Got-scheff gearbeitet hat.
Fritsch war 1991 bei Werner Schroeter etwa ein fabelhaft fixer, aasig gerissener Marchese Marinelli, von dessen wie ein Uhrwerk ablaufender Sprach-Präzision Michael Thalheimers rund um die Welt gefeierte »Emilia Galotti«-Aufführung noch eine Menge an Timing und Rhythmik hätte lernen können. Ebenfalls in Düsseldorf gab er bei David Mouchtar-Samorai einen kauzig verwöhnten, narzisstisch verstiegenen und doch schmiegsam weichen Peer Gynt – Ibsens nordischer Faust mit einigen Peter-Pan-Genen.
In Berlin ging es dann ab 1993 richtig zur Sache. Unter der Flagge der Vaganten am Rosa-Luxemburg-Platz ließ Fritsch in Ibsens »Frau vom Meer« seinen Piepmatz aus dem Trikot raushängen und steckte einen Fisch drauf, gab in »Clockwork Orange« dem aggressiven Wahnwitz des Alex seine Miene, stemmte in der »Sache Danton« den Robespierre, war Mit- und Gegenspieler von Henry Hübchen, Bernhard Schütz, Martin Wuttke und Partner von Kathrin Angerer, Corinna Harfouch, Astrid Meyerfeldt und Silvia Rieger. Er charmierte und animierte, rebellierte und provozierte in seinen Performances, ein bisschen Alice Cooper und etwas mehr Steve Martin. 2004 kraxelte er noch durch Castorfs »Schneekönigin«-Gelände nach Hans-Christian Andersen und gewann das Gefühl zurück: »Ich werd’ wieder frech, ich beiße wieder«.
Castorf habe über ihn gesagt, Herbert Fritsch sei »der einzige Schauspieler, der Hass ertragen« könne. Das war für ihn »wie eine Ohrfeige«. An der Volksbühne sei er als Negativ-Figur eingesetzt worden – ein »missbraucht« schwingt da mit. Andererseits, diese Zuordnung oder Zurichtung hat die Delirien und kontrollierten Ekstasen erlaubt, die berauschender sind als andere Rauschmittel. Fritsch räumt ein, er müsse ohnehin daran arbeiten, »auszuhalten, dass man nicht geliebt wird«. Nachdem Castorf ihn nach der letzten Gotscheff-Premiere, worin Fritsch irre komisch eine russische Großmutter spielte, in der Kantine fertig gemacht habe, war finito. Was er mittlerweile, nach der Trennung von der Volksbühne, relativiert: »Ich werfe mir vor, dass ich in dem Moment keinen Humor hatte.«
Aber Fritsch bleibt fair gegenüber Castorf, mit dem er schon 1989 in München in dessen legendärer Inszenierung von Lessings »Miss Sarah Sampson« den lüsternen Mellefont ejakulativ spielte. Fritsch nennt ihn den »sanftesten, zartesten, kommunikativsten Regisseur« überhaupt, rühmt seine »Leichtigkeit, Unabhängigkeit und Selbstverständlichkeit«. Gesteht zu, von ihm manches gelernt zu haben: »die Unverschämtheit, mit Stoffen umzugehen, Gesetzmäßigkeiten über den Haufen zu werfen und Angst-Territorien wegzuhauen«. Auch, dass man »ein Stück in drei Tagen machen könne – es kommt nur darauf an, wie das Leben vorher war«. Nur, wendet er ein, Castorf sei vom Weg abgekommen durch »Erfolg, Kommerzialisierung und einen gigantischen Ego-Schub«.
Fritsch hat das Herrschaftssystem Theater und »die Despoten satt, die die Vaterrolle als Schreckensfigur spielen, und dies noch aus einer linken Position heraus«. Kunst als Machtausübung, das könne es doch nicht sein. Laut denkt er darüber nach, inwieweit dies ein Erbe des Krieges sei, das bis zur 68er-Generation reicht, weshalb die Theorie des Historikers Götz Aly, der Zusammenhänge zwischen 1933 und 1968 konstruiert, wohl nicht verkehrt sei. Fritsch entwickelt ein Kontrastprogramm: »Wie wäre es, wenn man Liebe dagegensetzte, ohne dass es zum Kitschbild zweier knutschender Menschen werden muss?«
Er selbst habe als Regisseur keine Lust, »die Leute über Angst funktionieren zu lassen«. Was Strenge und natürliche Autorität nicht ausschließt. Er möchte nicht, »dass der Zuschauer eingeschüchterte Schauspieler auf der Bühne sieht und das auch noch als Qualität wahrnimmt«. Der Regisseur Fritsch macht ernst mit Komödie, Klamotte, Kalauer – etwa mit Curt Goetz’ »Haus in Montevideo«, das er in Halle herausbrachte. Dort hatte man sich gewundert: »Da kommt nun jemand von so einem Theater, wo Dostojewski, Heiner Müller und Sartre auf dem Spielplan stehen, und will ‘ne Schmonzette machen.« Während er davon erzählt, legt Fritsch los, dreht auf, hebt ab, macht vor und nach … wie zwei Schauspieler, Stützen des Hallenser Ensembles, sich seiner Proben verweigert, intrigiert, ihn sabotiert und seine Befähigung zu Witz und Pointe in Frage gestellt hätten. »Schauspieler A: Avantgarde kann ich auch. Aber das versteht man hier nicht. Schauspieler B: Bin ich etwa der Provinz-Ochse für Sie?«
Folge: Intervention des Intendanten. Treffen an einem neutralen Ort. Der Intendant fragt, was denn los sei auf den Proben. Fritsch, wieder einmal mental hoch droben auf Cioran’schen Höhen der Verzweiflung, weiß sich nicht anders zu helfen, als alles bisher auf den Proben Verfertigte in einem Extrem-Solo vorzuspielen. Worauf die Produktion weitergeht, Fritsch den Regie-Auftrag behält und zusätzlich die Hauptrolle übernimmt. Was ihm durchaus recht ist. »Es hilft, einen anderen Blick und Kontakt zu den Kollegen zu bekommen. Und es löst Spannungen.«
»Spielen ist das Paradies«, sagt er. Auf der Bühne zu stehen, auch beim Inszenieren, macht ihn »durch und durch glücklich«. Dann habe er das Gefühl, »denken und mich konzentrieren zu können«. Im Privaten sei er »eher konfus.« Dieser Gegensatz, diese Wechselwirkung reicht noch weiter: »Je erfüllter und identischer ich mit mir auf der Bühne bin, desto stärker habe ich den Eindruck, im Leben weniger geregelt zu kriegen.« Die Grundverunsicherung als Berufskrankheit.
Fritsch ist nahezu immer auf der Intensivstation, auf der Bühne sowieso und nicht selten im Alltag, wo er bürgerliche Ordnung und familiäre Sicherheit schon sehr braucht und den Auftritt im gut geschnittenen Anzug bevorzugt. Er ist von hoher Empfindlichkeit, funktioniert wie ein Sensor, der minimale, vielleicht inexistente Schwingungen registriert, den bedrohliche Krankheiten heimsuchen, so dass ihm niemand Hypochondrien unterstellen darf. Aber von seiner Disposition ist er der ideale »Eingebildete Kranke« (der Verfasser dieses Textes weiß, was das heißt). Das imaginäre Leiden findet im Kopf statt und ist dort quälend real. Die Paranoia hockt als ungebetener Gast auf der Schulter.
Im Krankenhaus, auf der wirklichen Intensivstation, passierte es ihm, dass er den Tod eines Patienten hinter dem Vorhang belauschen musste. Oder er klappte mit einer Salmonellen-Vergiftung kurz vor Vorstellungs-Beginn fiebernd zusammen. Oder wurde auf der Bühne fast von einer Schweinehälfte erschlagen. Oder es wird ihm, als er bei einer Herzkatheter-Untersuchung auf dem Bildschirm mitverfolgen kann, wie sich ihm sein Innerstes darstellt, angesichts dieses nicht nur medizintechnischen, sondern symbolischen Vorgangs ganz anders: »Du siehst alles.« Als eröffne sich eine Geheimkammer, das Tabernakel des Ichs. So hatte es schon Hans Castorp empfunden, als ihm in der Unterwelt des »Zauberbergs« auf dem Röntgenschirm sein Skelett entgegen leuchtet. Ein verbotener Blick. »Wenn das Herz nicht funktioniert, stellst du deine Existenz in Frage«, sagt Herbert Fritsch, der selbstzerstörerische wie selbstheilende Wesenskräfte besitzt.
Am liebsten wolle er immer noch mehr arbeiten, spricht er fast unhörbar beiseite. Als sehe er darin eine Art Zuflucht aus dem Ozean quecksilbriger Ungewissheiten auf festes Land. Freischwimmen will er sich dabei auch von den »Zerrüttungen« früherer Rollenspiele. Während er die Premiere in Oberhausen vorbereitete, probte er parallel in Berlin an der Komischen Oper für Mozarts Requiem mit dem Regisseur Sebastian Baumgarten eine Sprechrolle. In die Totenmesse werden Texte von Sterbenden integriert, aber nicht im Betroffenheitsgestus, sondern so, dass Fritsch dabei an die Pylones, die mexikanischen bunten Todes-Clowns denkt.
Gleichzeitig tüftelt er an einer Idee zu einem Internet-Wettbewerb mit dem Titel »Lachen. Weinen. Sterben.«, in dem etwa eine seelenvolle Maria Schell das Vorbild für überströmenden Tränenfluss abgibt, Netzbesucher sich einklinken und ihre Emotionen darbieten sollen.
Ja, und dann gibt es noch das mittlerweile auf fünf Tapes angewachsene Hamlet X-Projekt. Insgesamt an die 50 Familienfeste, Helsingör-Tatorte und Shakespeare-Nachstellungen im Mehr-Minuten-Takt hat Fritsch gedreht, die wie ein intermedialer Überraschungskalender funktionieren. In den skurrilen Experimenten mit Formen und Figuren tritt etwa Schlingensief als Gynäkologe auf, Leander Haußmann als Wannsee-Kapitän, Susanne Lothar als schrille Familien-Mutter, Ulrich Mühe und Matthias Schweighöfer – expressiv wie bei Murnau oder Fritz Lang, Thomas Thieme als Freier, Rehberg beim Tennis-Match und das Trio Hannelore Hoger, Jürgen Holtz, Hermann Lause im Bunker. Zum Hamlet-Maxi-Movie ist parallel ein wunderseltsames Bilderbuch erschienen, wiederum gemeinsam von Fritsch/Zwach: ein fideles Sammelsurium mit 100 Situationen, Ein- und Selbstdarstellungen als Mixtur aus Kunst, Comic, Satire, Sprachwitz (Hamlet zu seinem toten Vater: »Papa, Du gehst mir auf den Geist«) und Werbeformeln. Auf einer Doppelseite liegt Herbert Fritsch, aus- und niedergestreckt wie Hans Holbeins Christus im Grabe.
Ein bisschen Magie und Sympathiezauber gehört immer auch dazu. Herbert Fritsch erin-nert sich an eine Theaterarbeit aus frühen Münchner Jahren, als er nach heftigem Disput mit dem Regisseur die Proben auf Nimmerwiedersehen verlassen habe und einen Fluch zurückließ: Mit den Worten »Ich entreiße euch jetzt die Bühnenmitte« habe er eine mit Klebeband fixierte Markierung vom Boden abgezogen und mitgenommen. Herbert Fritsch spielt zwar vom extremen Rand aus, aber die Mitte hat er bei sich aufgehoben. //