Der Schulabschluss ist für jeden Menschen erst einmal eine große Zäsur und ein Scheideweg für den weiteren Lebensverlauf. »Die Nacht so groß wie wir« erzählt von fünf Freunden genau in dieser Zeit. Maja, Tolga, Suse, Bo und Pavlow sind zusammen zur Schule gegangen, haben sich als Zeichen ihrer Freundschaft fünf Stühle, die Stühle ihrer Lieblingskneipe, auf den Körper tätowiert. Obwohl sie alle unterschiedlicher nicht sein könnten, vereint sie die große Nacht. Der Abend des Abi-Balls trennt sie aber auch: Maja wird für ein Praktikum nach Japan gehen, Pavlow und Suse wollen nach Ghana. Suse zieht vielleicht erstmal nach Hamburg zu ihrer Freundin. Bo hat es nicht geschafft und wird weiter an der Schule bleiben. Dies ist ihr letzter Abend. Oder wie Pavlow es formuliert: »Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.«
War es für sie selbst genauso schlimm, als sie ihr eigenes Abitur machte? Sarah Jäger überlegt – und nickt. »In meiner Abizeit ging es mir gar nicht gut. Keine Ahnung, wohin es im Leben gehen soll, ich war fix und fertig.« Sie sei, vermutlich wie wir alle, erst einmal überfordert gewesen. Wer möchte ich sein? Was möchte ich machen? Wie wird mein Leben aussehen? Auch ihr eigener Lebensweg hatte einige Stationen, sie war Callcenter-Agentin und Theaterpädagogin – heute arbeitet sie mit und für die Literatur: Für das Gespräch hat sie die Buchhandlung »proust wörter + töne« in Essen ausgesucht, in der sie seit 2016 als Buchhändlerin arbeitet. Hier finden sich nicht nur gute Bücher, das Geschäft selbst ist Treffpunkt, Veranstaltungsort und Café. Seit Herbst letzten Jahres ist wenige Meter weiter noch der »Leseraum« dazu gekommen, in dem die Literarische Gesellschaft Ruhr und das Recherche-Netzwerk correctiv Lesungen und Diskussionen organisieren – so auch zum Welttag des Buches am 23. April.
Die Initialzündung für Sarah Jägers aktuellen Roman sei ihr eigenes Jubiläum der Abifeier gewesen. Nach 20 Jahren kehrte sie wieder in ihre Schule in Paderborn zurück, die verschmierten Kunsttische und die Musikräume hätten immer noch gleich ausgesehen. »Das ist natürlich krass. Einerseits sieht man sich selbst dort als jungen Menschen sitzen und steht gleichzeitig als Erwachsener davor. Die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart bringt einen zu der Frage: Wie denkt dieser Jugendliche über mich?« Diese Frage kann wohl nur die jugendliche Sarah Jäger beantworten. Die erwachsene Sarah Jäger hat derweil für den Blog »Das Debüt« zahlreiche Veranstaltungen mitorganisiert oder mit Kindern und Jugendlichen Theaterstücke geschrieben und inszeniert. »Als Theaterpädagogin habe ich versucht, die Rollen der Jugendlichen nach ihren Wünschen und Ideen zu schreiben.« So einfühlsam hat sie auch ihre Romanfiguren gezeichnet, ihre Sehnsüchte und ihre Ängste.
Sarah Jäger hat schon als Kind mit dem Schreiben begonnen. Sie imitierte ihre Lieblingsgeschichten, führte als Jugendliche Tagebuch, bis sie sich schließlich an ihren ersten (noch unveröffentlichten) Roman traute. Dieser verweilt bislang noch in der Schublade und erzählt die Vorgeschichte der fünf Freunde ihres aktuellen Romans. Doch schon ihr zweites Buch »Nach vorn, nach Süden« (das ebenfalls wie »Die Nacht so groß wie wir« im Rowohlt Rotfuchs-Verlag erschien) wurde ausgezeichnet – etwa mit dem Luchs-Preis, den Die Zeit und Radio Bremen für Kinder- und Jugendliteratur vergeben. Auch dieser erzählt von einer Gruppe junger Menschen, die zwar ihr Abitur schon hinter sich haben, jedoch nun auf dem Hinterhof des Penny-Marktes ihre Pausenzeit zwischen Schichten verbringen. Als Jo, einer der Jugendlichen verschwindet, begeben sie sich auf eine Reise – nach Süden. 2021 bekam Sarah Jäger das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium und landete jenem Debütroman auf der Shortlist für den Literaturpreis Ruhr.
Auch wenn »Die Nacht so groß wie wir« als Jugendroman verkauft wird, büßt das Buch nichts an Tiefe ein oder schreckt vor der Verhandlung von Traumata zurück. Ob es Maja ist, die von ihren Eltern allein gelassen wird, Pavlow, der ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater hat, weil er sich nur noch um seine neue Familie kümmert oder Suse, deren Vater früh bei einem Autounfall starb: »Diese Deformation durch die Eltern war für mich ein wichtiges Thema.« Die fünf Freunde bringen ein Erbe mit und versuchen zugleich, es in dieser Nacht loszuwerden.
Als Buchhändlerin liest Sarah Jäger unweigerlich jede Menge anderer Bücher als nur die eigenen. Fällt es da nicht schwer, das eigene Schreiben vom Gelesenen unberührt zu lassen? »In den Schreibphasen lese ich kaum, da kommen die Selbstzweifel. Jetzt habe ich meine Schreibphase hinter mir und lese wieder mehr. Ich würde wahnsinnig gerne so wie Benedict Wells schreiben, so harmonisch und rund. Ich merke dann aber auch, dass ich meinen eigenen Stil habe, der hat halt Stacheln und Kanten.« Auch in »Die Nacht so groß wie wir« werden diese Stacheln deutlich. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive der einzelnen Protagonist*Innen erzählt. Jede Figur hat ihren eigenen Ton. Dabei ist »Die Nacht so groß wie wir« aber keine Persiflage einer Jugendsprache, die mit Wörtern wie »nice« oder »cringe« um sich schmeißt. Jäger schreibt anders. Authentisch. In gewisser Weise erzählen Maja, Bo, Tolga, Suse und Pavlow von uns. Von den Jugendlichen, die wir selbst einmal waren. An der Grenze zum Erwachsensein. »Ich habe das Gefühl, ich muss bei meiner Sprache bleiben, auch wenn ich aus der Perspektive von Jugendlichen schreibe.« Lesenswert ist »Die Nacht so groß wie wir« damit für alle. Denn der Roman blickt auf die kommende Zeit, die Gegenwart oder eben die Vergangenheit. Und zeigt noch einmal die Unsicherheit, aber auch Hoffnung und Zuversicht auf das, was kommen mag.
Sarah Jäger liest aus »Die Nacht so groß wie wir« beim Literaturviertelfest am 23. April um 13 Uhr im Leseraum in der Akazienallee und spricht mit der Jugendbuchautorin Anne Becker über ihr Schreiben und ihre Geschichten.