TEXT SASCHA WESTPHAL
Irgendwann ist die Reihe an Thaïs Lamotte. Die Geschichten, die ihre Mitspieler zuvor erzählt hatten, handelten meist von länger zurückliegenden Ereignissen: private Anekdoten und Träume, typische Erinnerungen an Kindheitsdinge und andere prägende Momente. Auch die in elegantes Weiß gehüllte Lamotte spricht von einem einschneidenden Augenblick, der vieles für sie veränderte.
Nachdem sie am Abend des 13. November 2015 von den Pariser Anschlägen erfahren hatte, kam Thaïs Lamotte spontan der Gedanke, Schutzsuchenden, die den Schüssen und Bomben entfliehen wollten, zu helfen. Also ging sie von ihrer Wohnung auf die Straße, um Flüchtende hereinzuwinken. Dann kamen ihr Bedenken. Mit der Hand auf der Türklinke wurde ihr bewusst, dass auch ein Attentäter gerade entlang kommen könnte? Sie könnte sich und andere gefährden. In ihrer Erzählung währt der Augenblick der Entscheidung eine gefühlte Ewigkeit. In diesen Sekunden geriet die Zeit ins Stocken. Sie sah sich mit einem existenziellen Problem konfrontiert. Am Ende öffnete sie die Tür nicht – wer wollte ihr das vorwerfen?
Thaïs Lamottes Schilderung steht im Zentrum von »Kula – nach Europa«. In ihr spiegeln sich die Hintergründe des transnationalen Projekts, das der deutsche Theatermacher Robert Schuster in den Wochen nach dem Terroranschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo angestoßen hat. Und auch Probleme, es zu realisieren. Wie Lamotte wollte Schuster eine Tür öffnen. Es sollte nicht bei Beileidsbekundungen bleiben. Er wollte die Situation in
Europa und »Herausforderungen, die sich uns stellen« mit Mitteln des Theaters reflektieren. Dabei beschäftigte ihn eine Frage: »Sind wir Theatermacher noch Teil der Lösung oder doch schon Teil des Problems? Schließlich bewegen wir uns meist in einem abgegrenzten Sprachraum.«
Die Idee war, dass deutsche und französische Schauspieler mit der afghanischen Theatertruppe AZDAR auf einer Bühne nach einer gemeinsamen Sprache suchen. Schuster ist wichtig, »nicht wieder ein Flüchtlingsprojekt zu machen«. Die Schauspieler sollten sich mit ihren ungleichen Hintergründen »auf Augenhöhe« treffen und zeigen, wie »jeder etwas vom anderen lernen kann«. Klassische Stücke, von Goethe, Racine, Schiller oder Tschechow, schienen ihm wenig geeignet. Die Aufführungstradition stehe einer gleichberechtigten Begegnung eher entgegen. So haben Schuster und sein Team nach einem anderen Ansatz gesucht und ihn im »Kula-Ring«, einem rituellen Gabentausch-System der Ureinwohner der pazifischen Trobriand-Inseln, gefunden.
Die Insulaner besuchen regelmäßig ihre direkten Nachbarn und bringen jeweils ein Geschenk mit, das später vom Beschenkten weitergereicht wird. An die Gaben knüpfen sich Geschichten, die zum Band zwischen den Insel-Leuten werden. So hat sich hier eine Form von Ökonomie gebildet, in der es nicht um Gewinn, sondern um echten Austausch geht. Dieses Konzept greift »Kula – nach Europa« auf. Die Mitglieder des Ensembles beschenken sich gegenseitig und reichen ihre Geschichten weiter. So entsteht etwas, das für Schuster »weder französisch noch deutsch, noch afghanisch, sondern einfach ein schönes Ritual ist«.
Eine Tür wurde nicht geöffnet. Die Deutsche Botschaft in Kabul hat fünf Performern der Gruppe AZDAR, die mit ihrer Produktion »Heartbeat: The Silence After the Explosion« zum Ziel eines Selbstmordattentats der Taliban geworden ist, die Einreise-Visa verweigert. Obwohl alle Papiere, Arbeitsgenehmigungen wie Krankenversicherungen für sie vorlagen, befürchtete die Botschaft, dass die Schauspieler nach Beendigung des Projekts in Deutschland Asyl beantragen würden. Also sollten Bürgschaften für die sich dadurch ergebenden Kosten geleistet werden. Diese Bürgschaften könnten, hieß es zunächst, nur Privatpersonen übernehmen. Die am Projekt beteiligten Institutionen, zu denen neben dem Schauspielhaus Bochum das Nationaltheater Weimar, das Kunstfest Weimar, die Theater Freiburg, Chur und Mulhouse gehören, seien dazu nicht berechtigt. Damit ergab sich für Schuster eine »grundlegend falsche Situation«, in der Politik die sich aus dem Asylrecht ergebenden Konsequenzen privatisiere.
»Unzumutbar. Wie sollen Schauspieler auf der Bühne zusammenarbeiten, wenn die einen sagen ›Du gehst doch aber wieder zurück, sonst ist meine Zukunft gefährdet.‹« Statt der sechs Künstler aus Afghanistan ist nur Nasir Formuli, Gründer und Leiter von AZDAR, dabei. Er studiert seit März 2015 in Berlin Puppenspielkunst und hat eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis. An seine Kollegen erinnern fünf leere Hocker, auf die jemand die Behördenpapiere verteilt, die die Beteiligung der Afghanen ermöglichten sollten. »Wir wollten ein Fest machen, das nicht stattfinden kann«, sagt Schuster. Das ist in »Kula – nach Europa« nun ebenfalls Thema: Anderthalb Jahre, in denen die Türen geöffnet und zugeschlagen wurden.
»Europa steht vor einem Moment der Geschichte«, sagt Schuster, wie 1989 vor dem Fall der Mauer. So sieht es neben dem Theatermacher Schuster auch die Weimarer Schauspielerin Elke Wieditz. Sie verweist in der Inszenierung auf jene von Unsicherheit geprägten Wochen. Damals wie heute: Das Pendel kann in die eine oder andere Richtung ausschlagen. Für Fatalismus ist es noch zu früh, zumal sich in der Visa-Sache etwas bewegt hat. Es besteht eine reale Chance, dass 2017 ein Fortsetzungsprojekt möglich wird, bei dem die Afghanen in Europa auftreten werden. Pessimismus schwebt trotzdem über der Produktion, die für Schuster »vom europäischen Traum getragen« sei. Den sieht er in einem anderen Licht: »Es rächt sich jetzt brutal, dass die EU nur ein Wirtschafts- und Finanz-Zusammenhang ist. Wir merken, solche Projekte hätten wir schon vor 15 Jahren machen sollen.«