VON HOLK FREYTAG
In einem sehr frühen Text gab Hanns Dieter Hüsch unserer Erde einmal eine Stimme und ließ sie ausrufen: »… noch 50 Jahre, und ich stecke auch alle in die Tasche.« Dies hat er auf seine Art getan, und die Zeile liest sich heute wie die versteckte Androhung einer Karriere. Aber hören Sie, wie es weiterging im Lied von damals: »Terra wurde krank, verschenkte alle ihre Güter, schwor allen Eroberungsgelüsten ab und heiratete den Himmel. Und wenn sie nicht gestorben wird«, heißt es weiter, »dann könnten wir heute alle in Frieden leben.« Dies schrieb damals ein junger Mann, der ganz offensichtlich das falsche Studium in Angriff genommen hatte, mit sicherem Instinkt für seine eigenen Fähigkeiten wusste, dass er im Hörsaal für ihn Wichtigeres verpasste und sich gerade erst von dem verlockenden Gedanken verabschiedet hatte, wie seine spätere Kunst- und Weltfigur Ditz Atrops sein Leben purgänzlich in Moers zu verbringen. In diesem frühen Text schon erklingt eine später immer wieder geradezu leidenschaftlich vorgetragene Absage an jede Form von besitzergreifender Größe. Hüschs Friedensbotschaft ist religiös geerdet, und die Heirat seines Planeten mit dem Himmel ist gewiss eine Liebesheirat.
Wer vom Niederrhein aus die Welt – nein, nicht erobern, daran hindert den Niederrheiner schon seine Erbanlagen – wer vom Niederrhein aus die Welt auch nur betreten will, irgendwo draußen mitmachen will, der wird sich zunächst immer als Underdog, als »schwarzes Schaf«, als Minderheit empfinden. Andere Landschaften sind definiert; der Niederrhein scheint den Landsleuten jenseits der Trauerweiden eine offene Frage zu sein, obwohl Xanten doch mindestens so schön ist wie Weimar und idyllischer als Santa Fe. Und Joseph Beuys war wohl der bislang einzige Europäer, der New York besucht hat, ohne amerikanischen Boden zu betreten. Geschichte war hier immer auf der Durchreise, und deshalb sind die Niederrheiner kleinlauter, scheuer als andere, müssen sich selbst erst einmal alles zweimal beweisen, bevor sie sich trauen, es anderen zu beweisen.
Mit dieser Hypothek belastet, begann Hanns Dieter Hüsch vor fast sechzig Jahren seine Reise in die Herzen der Menschen. Und es war nicht nur der Anfang einer einzigartigen literarisch-kabarettistischen Laufbahn, es war auch die Geburtsstunde des Parlamentarischen Rates, jener Versammlung, die das einzigartige Dokument des Grundgesetzes erstritt und damit die Gründung der Bundesrepublik ein Jahr später ermöglichte. Hüsch hat diesen Staat von der Kanzel seines Klaviers und seines zusammenklappbaren Notenständers begleitet, später hinter dem sicheren Schirm seiner Orgel. Scheu und beobachtend, bescheiden kein Recht für sich in Anspruch nehmend und niemals sich anbiedernd: »Freunde« blieb die intimste Form seiner Anrede.
Tausende Male hat er sich seinem Publikum gestellt, Tausende Male physische und psychische Belastung auf sich genommen, die einen öffentlichen Auftritt begleiten und die er einmal so beschrieben hat: »Man weiß nie, ob alles stimmt, ob alles klappt. Man kann sich nicht auf alte, liebgewordene Pointen verlassen. Ich weiß nicht, wo Sie lachen und wo Sie schweigen werden. – Sie sind gekommen, und ich weiß nicht, aus welcher Richtung Sie gekommen sind.« Das Lachen, das so oft seinen Worten folgte, ist so ernsthaft wie in Candide und Simplizissimus und so befreiend wie bei Zille. Mit dem Lachen des Karnevals in seinen beiden Wahlheimatstädten Köln und Mainz hat es nichts gemein.
Das Lachen nach seinem Wort ist hell – C-Dur wie bei Haydns berühmter Schöpfungsstelle »es werde Licht«; es lässt die Aufklärung für Momente wiedererstehen, weil der Hörer Distanz gewinnt zu sich selbst und für kostbare Minuten den Zustand der Gelassenheit genießt. Wen würde es wundern, wenn in einem solchen Augenblick sich einer erhöbe und sagte: »Danke, Hüsch, wir haben verstanden und werden jetzt alles anders machen; zum Beispiel werden wir ab sofort behaupten, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, dass Solidarität ein Begriff aus der niederrheinischen Mundart ist, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und dass von nun an Schillers Wort gilt: ›Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen‹«.
Aber Hüsch kennt auch die dunkle Seite des Komödianten – denn ein Komödiant ist er im Wortsinn wie im Widersinn. Etwa dann, wenn er seine genialischen Hagenbuch-Texte verliest, wenn er sich auf den Weg macht zur Bernhard’schen Genauigkeit, wenn er aufzeigt, wie seinem wahrhaftigen Antihelden das Konkrete der Wahrheit entschwindet, je genauer er sie beschreiben will.
Was aber tut der Mann, der solche Worte verdient? Er nennt sich Kleinkünstler und empfindet dies als Ehrentitel. Er ist Kabarettist und wertet damit den Zustand der Demokratie auf. Er ist den Zwischentönen verpflichtet und passt deshalb in keine Kategorie. Schließlich ist er – ein Leitbild. Lange bevor die Wertediskussion Eingang in die Talkshows der Fernsehwelt fand, erfand Hüsch Formulierungen wie seinen Aufruf wider die Pharisäer, die sich doch gefälligst im »Unterholz der Tugend« verirren mögen, auf dass sich die »Landpfleger sehr verwundern« möchten. Hüsch brauchte solche Sätze – in einer Zeit als Günter Grass seine große Rede vor Studenten der Hebräischen Universität in Jerusalem hielt. »Kein Wort will haften«, rief er damals aus dem Heiligen Land zu uns herüber, meinte damit den moralisch-politischen Notstand, dass ein Altnationalsozialist Bundeskanzler werden durfte, dass geplante Notstandsgesetze an schlimmere erinnerten. Hüschs Wort haftete – denn er umging die Politik des Tages, ließ sich selten auf die scheinbare Aktualität des einzelnen Ereignisses ein und wandte sich nur ihren Gründen zu. »Ihr werkelt an Symptomen« hieß es damals, Hüsch stellte Fragen, an denen die Symptome zerplatzten. In »Frieden hienieden« etwa reflektiert er ganz unverhohlen, dass Frieden unteilbar ist und nur von unten nach oben entstehen könne – er tat dies in schönster Poesie, während andere – manchmal sogar neben ihm auf der Bühne – meinten, »schöne Poesie ist Krampf im Klassenkampf«. Hüsch hatte sie längst links überholt.
Hüschs basisdemokratische Haltung hat ihm über Jahrzehnte hinweg die Liebe seines Publikums erhalten. Doch während es immer normaler wird, dass auch bedeutende Künstler mit ihrem Publikum altern, hat sich die Gemeinde von Hanns Dieter Hüsch nicht nur stets vergrößert, sondern auch verjüngt. Es ist dies ein beeindruckendes Bekenntnis junger Menschen zu Authentizität und eben haftendem Wort.
Die Orgel, hinter der sich Hüsch bisweilen wie hinter einer Barrikade verschanzt, ist Welttheater, ein Welttheater des öffentlichen Nachdenkens. Wenn man genau hinhorcht, kann man dort Shakespeare entdecken ebenso wie Brecht, Lessing ebenso wie Thomas Bernhard. Da sind Figuren, die er tanzen lässt, bis er sie zum großen Gesang vom kleinen Mann versammelt. Denn Hüschs Welttheater bietet stets die Untersicht auf die Tragödie, in der er selbst Autor und Regisseur, vor allem aber Komödiant ist. Ein Komödiant, der bei Lessing Nathan heißt. Denn nicht nur familiäre und regionale Herkunft haben ihn geprägt, sondern auch die bedrückende Last der Nachkriegsgenerationen, die sich zurechtfinden mussten in einem Land, das sich ausgestoßen hatte aus der Gemeinschaft der friedlichen Völker. Nachdem er als Schüler noch Zeuge war der Manipulation von Massen, begann er seine Arbeit, indem er den Einzelnen ansprach, der sich nicht länger als namenloses Glied einer vorformulierten Volksgemeinschaft begreifen durfte, sondern als Ganzes, das sich selbst gehörte.
Seine Erkenntnisse, mit denen er sparsam umgeht, sind das Einfache, das so schwer zu erreichen ist und das uns bisweilen ganz unvermittelt trifft. Zum Beispiel wenn er schreibt: »… Ein Metzger kann Wurst und Fleisch machen, aber keine Philharmonie dirigieren, und wenn, dann macht er das bei ›Wetten, dass…‹ und macht den Leuten Freude. Ich vermute, dass Leonard Bernstein keine Zähne ziehen kann, dafür kann ein Zahnarzt meistens kein Ballettmeister sein, zumindest nicht gleichzeitig. Natürlich gibt es immer wieder große oder kleine Geister, die drei, vier Sachen auf einmal können, aber immer kommt jeder an eine Grenze, wo es nicht mehr weitergeht und wo der andere einspringen und helfen muss. (…) Jeder braucht jeden, den Gärtner genauso wie den Politiker, egal ob der nun gut oder weniger gut ist. Was wir nicht so sehr brauchen, das sind Arrogante, Hochmütige und Eingebildete, die immer noch meinen, nur sie allein würden gebraucht. Nein, die brauchen wir nun wirklich nicht.« Wir sind die Haltung, die solche Worte suggerieren, nicht mehr gewöhnt. Sie ist altmodisch. Und wenn wir ihr begegnen, trifft sie uns unmittelbar. Mit dieser Haltung hat sich Hüsch vor vielen Jahren auf den Marsch begeben, immer in der Minderheit, aber für eine bessere Welt und mit Mozart im Gepäck – nicht weltanschauungs-, sondern menschensüchtig –, altmodisch eben und daher immer auf der Höhe seiner Zeit. Ditz Atrops nämlich trägt in Texas einen breiten Hut und läuft am Prenzlauer Berg in Frank Castorfs Inszenierungen.
Hanns Dieter Hüsch hat den Niederrhein und seine heimliche Hauptstadt Moers nicht verändert – das haben die Niederrheiner, haben die Moerser selbst besorgt. Sie konnten es, weil Hüsch ihnen das Bewusstsein eines eigenen, ganz einzigartigen Landstrichs gegeben hat. Gibt es ein besseres Beispiel für den Einfluss von Kultur?
Holk Freytag, der Dresdener Schauspielintendant, begründete 1975 das Schlosstheater der niederrheinischen Stadt Moers, in der 50 Jahre zuvor Hanns Dieter Hüsch geboren wurde. Hüsch gab 2000 seine Abschiedstournee und lebt mittlerweile zurückgezogen im Windecker Land; am 6. Mai feiert er seinen 80. Geburtstag. Freytags Text entnehmen wir (leicht gekürzt, doch dankend) dem Band »Untersteht euch – es wird nix gemacht!«, der von Jürgen Schmude und Wilhelm Brunswick herausgegeben ist und im Brendow-Verlag erscheint. Er versammelt textliche Liebesgaben an und kollegiale Verneigungen vor Hüsch von Konrad Beikircher, Franz Hohler, Dieter Nuhr, Horst Schroth, Klaus Staeck, Dieter Süverkrüp, Konstantin Wecker und anderen. Arbeiten des kürzlich verstorbenen Fotografen Norbert Schinner, die seinen Freund Hüsch zumeist in privaten Situationen zeigen, sind ab 9. Mai in der Moerser Zentralbibliothek zu sehen; im Grafschafter Museum Moers präsentiert ab 6. Mai eine weitere Ausstellung Fotos und Filme aus dem Leben des großen Kabarettisten sowie Grafiken des Hüsch-Weggefährten Jürgen Pankarz.