Gegenwartskunst in einer mittelalterlichen Altstadt: Wie passt ein derart ungleiches Paar zusammen? Ausgezeichnet – jedenfalls wenn Brügge der Schauplatz einer solchen Begegnung ist. Die dortige Triennale verwandelt die Hauptstadt der Provinz Westflandern, geadelt als Unesco-Weltkulturerbe, in eine Bühne für zeitgenössische Kunst und Architektur.
»Spaces of Possibility«, das Motto der vierten Triennale Brügge zeigt es schon. Räume der Möglichkeiten haben die Kuratorinnen Shendy Gardin und Sevie Tsampalla ihren Ausstellungsparcours genannt. Nichts ist unmöglich – der Slogan zündete einst schon als TV-Werbespot. Nun beschreibt er aber auch die Philosophie dieser Open-Air-Ausstellung, an der einfallsreiche Köpfe aus zehn Ländern mitwirken. Was sie ermöglichen wollen, lässt sich umreißen mit Begriffen wie Bewegung, Begegnung, Kreativität, Flexibilität, Zufall und Freiheit. Die Stadterkundung auf den Spuren der zwölf ortsgebundenen Arbeiten spielt sich innerhalb eines überschaubaren Areals ab. Innerhalb der einzigartigen spätmittelalterlichen Altstadt, die wie durch ein Wunder von Kriegszerstörungen und Feuersbrünsten verschont blieb, liegen die einzelnen Triennale-Stationen in fußläufiger Nähe. Noch komfortabler gelangt von Installation zu Installation, wer sich ein Fahrrad leiht.
Außerhalb des Grün- und Grachtengürtels, der die Altstadt umfasst, aber immer noch leicht erreichbar, begegnet man einer Arbeit von Mona Hatoum: Im Garten der psychiatrischen Klinik Onzelievevrouw, nicht weit entfernt vom Bahnhof, setzt die renommierte, in London lebende libanesische Künstlerin auf »Full Swing«: eine Schaukel, die in einem von Steinen gesäumten engen Schacht steckt, weshalb das Schaukeln Beklemmung statt Lust auslöst.
Lediglich der am Meer gelegene Ortsteil Zeebrugge fällt als Triennale-Außenposten aus dem Rahmen. Am Strand, dem Wechsel von Ebbe und Flut ausgesetzt, zieht Ivan Morisons begehbare Installation »Star of the Sea« die Aufmerksamkeit auf sich. Aus Beton hat der in Großbritannien lebende türkische Künstler ein Zwischending aus Sandburg und Bunker aus dem feuchten Boden gestampft. Ein Beitrag, der sowohl Teil der Triennale Brügge ist als auch zum Programm der parallel laufenden Beaufort Triennale am Meer gehört. Mit dem Seestern verweist Ivan Morison auf die vielen Befestigungsanlagen an der belgischen Küste.
Ein besonderes Merkmal der Triennale Brügge ist das nahtlose Zusammenwirken von Künstler*innen und Architekt*innen. Gibt es für die beiden Kreativsparten in Venedig je eine eigene Biennale, so finden in Brügge alle unter einem Dach zusammen statt. Was schon deshalb Sinn macht, weil die Grenzen zwischen den Disziplinen mittlerweile fließend sind.
So könnte der Triennale-Beitrag der beiden japanischen Architeken Shingo Masuda und Katsuhisa Ostubo ohne weiteres als Werk eines Bildhauers durchgehen. Die Skulptur »empty drop«, aufgemauert im Sint-Janshospitaalpark, atmet den Geist des Minimalismus einer Skulptur von Per Kirkeby. Drei Zylinder, bestehend aus abgetrepptem Mauerwerk, bilden ein harmonisch austariertes Ganzes. Eher, aber auch nicht vollständig zur Kategorie »Bauwerk« zählt der »tower of balance«, den das thailändische Architekturbüro Bangkok Project Studio im König-Albert-I.-Park errichtet hat. 18 Meter hoch ist dieser aus Holz gezimmerte, ausbalancierte Glockenturm, der über drei Plattformen verfügt. Wer die oberste erklommen hat, kann sich selbst als Glöckner betätigen. Ein Vergnügen freilich, das mit nicht zu unterschätzender Dezibel-Stärke verknüpft ist. Den »tower of balance« versteht das von Boonserm Premthada gegründete Büro als Hommage an Brügges Belfried – der mittelalterliche Turm, 83 Meter hoch, gehört zu den Wahrzeichen der Stadt.
Eine weitere architektonische Triennale-Arbeit erwartet die Besucher*innen im Innenhof der Stadshallen aus dem 13. Jahrhundert. Ihn haben Léone Drapeaud, Manuel León Fanjul und Johnny Leya vom belgischen Architekturtrio Traumnovelle mit einem Stahlgerüst verstellt. Die Planen, die das Gerüst umspielen, lassen an Christos Verhüllungsaktionen denken, geben dieser Bühne, auf der das Publikum zuschauen und selbst agieren kann, aber auch etwas Provisorisches.
Grünzonen, Wallanlagen und Kanäle, von den Einheimischen »Reien« genannt, prägen das Erscheinungsbild von Brügge ebenso sehr wie die historische Architektur. Wer an der Wulfhagestraat von der Brücke auf den Speelmansrei blickt, sieht dort ein Paar monumentaler Stiefel, die über das Wasser des Kanals zu laufen scheinen. Urheber des Schuhwerks aus Bronze ist der in Paris lebende kolumbianische Künstler Iván Argote. Der Titel seiner Arbeit, »Who?«, nimmt die Frage vorweg, die sich manch ein Betrachter stellen mag: Wo ist der Rest der Skulptur? Und wen stellt sie dar?
Im Süden der Altstadt, unterhalb der Minnewater-Brücke, wurde ein weiteres Triennale-Kunstwerk zu Wasser gelassen. Es handelt sich um kleine, schwarze Barken, die Sumayya Vally zu Beeten für Pflanzen und Kräuter umfunktioniert hat. Mit dem Titel »Grains of Paradise« verweist die in Johannesburg lebende Künstlerin auf den exotischen Melegueta-Pfeffer (Fachausdruck: »Afromomun legueta«), der schon im Mittelalter aus dem Golf von Guinea nach Europa importiert wurde. Der Name »Paradieskorn« verdankt sich der medizinischen Wirkung, die man der Heilpflanze zuschreibt.
Durchstreift man die schönen Parks und Gärten der Stadt, so stellt man rasch fest, dass sie die bevorzugten Tatorte der Triennale-Teilnehmer*innen sind. Am Platz Sint-Obrechtsstraat, flankiert von den Straßen Oostmeers und Westmeers, kann man einen neuen Community Garden entdecken, den Daniel Norell und Einar Rodhe mit recyceltem Material angelegt haben. »Raamland« lädt ein zur Rast und Entspannung, bevor der Triennale-Rundgang fortgesetzt wird.
Nicht weit entfernt liegt der Garten des ehemaligen Kapuzinerklosters von Brügge. Die Wege dieses hinter Mauern verborgenen »Hortus conclusus« überspannt ein Hightech-Gewebe – mit ihrer eleganten Intervention »Common Thread« geben Florian Isenburg und Jing Liu vom New Yorker Architekturbüro SO-IL dem Garten an der Klokstraat ein ganz eigenes Gepräge. Eine Honigpumpe installierte Joseph Beuys 1977 bei der documenta 6 in Kassel. Als Hommage an die Bienen und Ausdruck des erweiterten Skulpturenbegriffs lässt sich auch jene Arbeit interpretieren, die Mariana Castillo Deball im Professor Dr. J. Sebrechts Park zeigt. Die Mexikanerin, die in Berlin lebt, holte für ihr dreiteiliges Bienenstock-Plateau, das von Keramiksäulen getragen wird, Imker aus Brügge an Bord. Sie dürfen nicht nur den Honig abschöpfen; wenn »Firesong for the bees, a tree of clay« nach dem Ende der Triennale abgebaut wird, gelangen die Stöcke in ihre Obhut.
Stichwort Park, Stichwort Garten: Innerhalb des Rahmenprogramms der Triennale verdient besonders die Ausstellung »Rebel Garden« Beachtung. In drei Häusern – dem Groeningemuseum, dem Gruuthusemuseum und dem Museum Sankt-Jans-Hospital – bringt das Musea Brugge im Spiegel von alter und zeitgenössischer Kunst das prekäre Verhältnis von Mensch und Natur zum Vorschein. Im Klimawandel erfährt es derzeit den drastischsten Ausdruck. Hingucker der Ausstellung zwischen Gartenkunst und Rebellion ist Per Kristian Nygårds künstliche Hügellandschaft, die der norwegische Künstler im Innenhof des Groeningemuseums angelegt hat.
»Spaces of Possibility«, Triennale Brügge 2024, bis 1. September