Es fällt nicht leicht, sich ihn als Fotografen vorzustellen: Cy Twombly. Denkt man doch bei diesem Namen an unbestimmte grafische Spuren, flüchtigen Kritzeleien gleich, mit Pinsel, Stift und rascher Geste auf die weiße Leinwand geworfen. An kaum umrissene Kleckserei, Tropfen, zartes Farbgewölk. An spontane Gebärden, die in den explosiven Großformaten des Spätwerks – in riesigen Rosen etwa oder historischen Seeschlachten – ihren farbsprühenden, raumgreifenden Niederschlag finden.
Nebenbei aber soll derselbe Twombly die Kamera in die Hand genommen haben, um sich ruhig und gelassen in der Beschaulichkeit des eigenen Ateliers umzutun? Um mit Muße Blätter und Blüten zu erkunden, durch romantische Landschaften zu streifen, beharrlich mit der Line einen Kohlkopf zu umrunden? Die rote Glut des Sonnenuntergangs über dem tiefdunklen Meer von Gaeta ins Visier zu fassen? Um all das in kleinen, intimen Foto-Studien beiläufig kundzutun?
Tatsächlich – auch das ist Cy Twombly. Über hundert der in Maß wie Motiv völlig unspektakulären Ergebnisse seiner fotografischen Annäherungen präsentiert nun eine Ausstellung, die nach ihrer ersten Station im Museum Brandhorst in München diesen Juli nach Siegen ins Museum für Gegenwartskunst wandert.
Im Sommer 2009 bereits hatte eine Twombly-Retrospektive in Wien neben Zeichnungen, Gemälden, Plastiken dem fotografischen Schaffen einige Aufmerksamkeit geschenkt. Die Ausstellung in München und Siegen nun ist die erste, die sich ausschließlich und in großer Ausführlichkeit jenem Zweig im Schaffen des US-Künstlers widmet. Und sie rückt etwas sehr Eigenes, schwer Vergleichbares ins Blickfeld.
Lange wussten allenfalls Kenner, dass der Künstler sich schon sehr früh und seither immer wieder mit Fotografie beschäftigte. Bereits 1944 – Twombly war 16 Jahren alt – setzte er sich selbst vor der Kamera in Szene. Da posiert der junge Mann im Freien unter dem Sonnenschirm mit Hut und Pinsel vor der Staffelei – man könnte meinen, einen Plein-Air-Maler aus Barbizon vor sich zu haben.
Ernsthafter und intensiver geht Twombly dann sechs Jahre später die Sache an. Es ist die Zeit, als er mit Robert Rauschenberg und anderen damals noch kleinen Größen der US-Avantgarde kurz am berühmten Black Mountain College studiert. Karge Interieur-Ausschnitte nimmt Twombly sich jetzt als Motive vor: Ein Stückchen Stuhl, ein Ecke Tisch. Wieder und wieder wird das angestaubte Mobiliar aus variierenden Blickwinkeln abgelichtet. Besonders scheint den Künstler dabei das dicke, weiße Tischtuch mit seinen kleinen Knicken, Wellen und dem damit verbundenen zarten Schattenspiel zu interessieren.
Während die etwa gleichaltrigen Kollegen – Jasper Johns zum Beispiel, Andy Warhol oder Twomblys guter Freund und Reisegefährte Rauschenberg – daheim die amerikanische Pop-Art auf den Weg bringen, während sie den lauten Alltag, Konsum, Gewalt und Massenmedien für die Kunst entdecken, taucht Twombly 1957 nach Italien ab und tief ein in Geschichte und Kultur des Mittelmeerraums. Mit Pinsel, Farbe, Zeichenstift, später auch in plastischen Arbeiten.
Erst in den 80er Jahren kommt die Kamera dann wieder häufiger zum Einsatz. Sie schaut in stille, immer menschenleere Räume des eigenen Hauses in Bassano. Sie streift verstohlen den Rücken einer Pan-Skulptur, wirft blendendes Blitzlicht auf alte Gemälde, lässt die Büste eines Bärtigen verschwimmen. Oder sie kreist 1985 ausdauernd um ein paar Tulpen. Kommt ihnen ganz nahe von allen Seiten. Sieht ihre Konturen entgleiten, löst ihre Blütenkelche in Licht und Schatten auf.
Das Gros der Fotografien in München und Siegen ist jünger, stammt aus den letzten gut zehn Jahren, die Twombly häufig in Rom, vor allem aber auf seinem Landsitz in Gaeta, 70 Kilometer nordöstlich von Neapel, verbracht hat. Immer wieder ist dieser Name zu lesen auf den Schildchen neben seinen Fotos: »Lemon, Gaeta, 2008« – unter diesem Titel firmiert eine ganze Reihe von Bildern, die sich Zitronenblüten, Früchten oder Blättchen auf dem Boden zuwenden. Die abgefallenen Pflanzenteile liegen da, oft neben langen Schatten im warmen gelben Licht. Eine eigentümliche Stimmung macht sich breit: Südliche Wärme, abendliche Ruhe. Dazu die Ahnung von Vergänglichkeit.
Eine stille, kontemplative Bilderwelt. Als »Manifeste des empfindsamen Sehens« sah der Kunsthistoriker und -kritiker Laszlo Glozer Twomblys Fotografien. Doch bleibt es nicht bei dieser einfühlsamen Beobachtung. Hinzu kommen die fotografische Technik und das spezifische Reproduktionsverfahren als den Ausdruck bestimmende Faktoren. Twombly fotografiert ausschließlich mit der Polaroidkamera und vervielfältigt die Bilder im kaum mehr praktizierten Dryprint-Verfahren – eine Kopiertechnik, die mit weniger Wasserzugabe auskommt und den Abzügen einen samtigen, körnigen Anstrich gibt. Das antiquierte Kopiergerät dazu hat
Lothar Schirmer aufgetrieben und in seinen Verlag gestellt, der so zu einer Art Außenstelle von Twomblys Atelier wurde. Aus dem Verlagshaus Schirmer/Mosel kommt auch der dicke Katalog zur Münchner und Siegener Schau.
Das Verschwommene, die fließenden Übergänge, das oft Ausschnitthafte, der altertümliche Anschein und auch die Sujets – Landschaften, Interieurs, Blumen, Früchte, Vasen – haben wiederholt Vergleiche mit dem Piktoralismus in der Fotografie des späteren 19. Jahrhunderts provoziert. Damals war den Lichtbildnern daran gelegen, ihre Aufnahmen durch einen malerischen Anschein aufzuwerten und damit das neue Medium auch als ein künstlerisches zu etablieren. Darum braucht Twombly sich heute gewiss nicht mehr zu kümmern.
Aber vielleicht hilft die historische Referenz trotzdem, seinen eigenartig zeitlosen Fotos etwas näher zu kommen. Wie die Maler des Impressionismus und des Postimpressionismus haben die Fotografen des Piktoralismus ihre Kunst erstmals von der Verpflichtung befreit, die gegenständliche Erscheinung möglichst objektiv und exakt zu erfassen. Vielmehr machten sie das Seherlebnis selbst zum Thema. Nutzten dabei gezielt das Material oder seine technischen Möglichkeiten und Methoden.
Vergleichbar Twombly, wenn er die Formen mit allen Mitteln – Überbelichtung, Unterbelichtung, Unschärfe, samtene Oberfläche – der Auflösung entgegentreibt. Am ausdrücklichsten wohl in einigen weißen »Flowers«, die er 2005 in Gaeta gleichsam als Lichterscheinungen wahrnimmt. Nur noch zu erahnen sind grüne Blätter und gleißend helle Blüten.
Kaum zu fassen. So sehr man sich auch bemüht, dem Ding auf dem Foto klarere Konturen abzuringen, es bleibt schleierhaft. Wie ein Hauch, eine entschwindende Erinnerung. Und so gesehen gibt sich der altbekannte Twombly denn doch auch in diesen auf den ersten Blick so überraschenden Fotos zu erkennen: Der hoffnungsvolle Künstler, der einst dem ganz und gar gegenwärtigen Getöse der aufkommenden Pop Art entfloh, um in Italien die Vergangenheit zu entdecken. Der Zeichner mit seinen grafischen Kritzeleien, die nichts klar sagen, nur andeuten. Der Maler mit seinen zarten Spuren und farbgewaltigen Ausbrüchen, die immer wieder Vergangenes reflektieren. Der Künstlerstar, der sich bei Ausstellungseröffnungen versteckt, fast nie Interviews gibt.
Und ebenso jener 16-jährige junge Mann, der sich im 19. Jahrhundert wohlfühlt. Der mit seiner Staffelei zwischen Gräsern und Büschen posiert. Sich entgegen allen avantgardistischen Trends im Habitus des Freilichtmalers alter Schule gefällt.
Museum für Gegenwartskunst, Siegen; 17. Juli bis 30. Oktober 2011; Tel. 0271/ 405 77 10. www.mgk-siegen.de