Marzahn oder Gropiusstadt, das macht wenig Unterschied, auch wenn die eine Groß-Siedlung im Berliner Osten, die andere Hochhaus-Kolonie in Neukölln im Süden der Metropole liegt. Ost und West verbindet die soziale Misere. Das Gleichheits-Versprechen der sozialistischen Gesellschaft und die kapitalistische Gewinn-Offerte, sie gelten beide gleich: nicht.
In seinem Kurzfilm »California Dreams« (2005) hat David Wnendt über einen Teenager im Marzahner Plattenbau erzählt. So ging es bei ihm weiter, vor allem mit »Kriegerin« von 2011, dem Porträt einer jugendlichen Neonazi-Clique in einer ostdeutschen Kleinstadt, bis er jetzt mit »Sonne und Beton«, gedreht nach dem Roman und Erfahrungsbericht von Felix Lobrecht, auf der Berlinale wuchtig aufschlug.
Der gebürtige Gelsenkirchener, Jahrgang 1977, hat Gespür und Empathie für das Milieu, das er genau und gut recherchiert zeichnet, aber nicht statisch behandelt, sondern zeigt, dass die Begegnung mit dem Individuellen, dass ein emotionaler Ruck oder Schock Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln herbeiführen kann.
Lukas (Levy Rico Arcos) ist 15 und zu Hause an einem Brennpunkt im »Problembezirk« Neukölln. Beim Betreten des »bekackten« Schulgeländes muss ein Ausweis vorgelegt werden. Den hat er nicht dabei, und die Securtity Guards sind beinhart. »Mann, Alter«, dann eben kein Unterricht. Stattdessen zieht er mit Gino (Rafael Luis Klein-Hessling) und Julius (Vincent Wiemer) los. Es ist nicht ihr Tag. Als sie im Park nach einer Provokation in eine Schlägerei zwischen türkischen und arabischen Drogendealern geraten, setzt es für sie nicht nur Prügel. Bilanz für Lukas: Er hat an die Bande 500 Euro zu zahlen. Der Zuschauer ist dabei mitten drin, sodass es tut weh und er sich beinahe selbst unter die brutalen Attacken duckt, für die Rap den Rhythmus vorgibt.
»Das ganze Gesicht zerfickt«
Wir kennen die politischen Schlagworte und statistischen Kurven: südländische Vornamen, jungmännliches Muskelspiel, problematische familiäre Situation, hoher Ausländeranteil, hohe Arbeitslosenquote, hohe Kriminalitätsrate, niedrige Schulbildung, Armutsgrenze, Spirale der Gewalt, Diskriminierungserfahrungen. Viel Frust und Wut im Bauch. Funken schlagen schnell an, Sicherungen brennen durch; nicht nur die Fäuste geballt, es kommen Eisenstangen, Messer, Schusswaffen zum Einsatz. Schnell ist »das ganze Gesicht zerfickt«. »Gemischtes Hack«, wie ein Podcast von Lobrecht heißt. Das Outfit mit Trainingshosen macht klar, dass Kampf die nächst liegende Möglichkeit bleibt. Die Toleranzschwelle der Kids liegt niedrig, aber zugleich sehen wir durch David Wnendts Augen, die das halb zerstört, rührend Sensible der Kinder erkennen, ihren Drive, ihre Energie, ihr Ungestüm, ihren gehärteten Willen zum Gelingen, auch wenn das anderes meint als für unsereins.
Lukus & Company leben zwischen den Prinzipien »Der Klügere gibt nach« (Lukas’ Vater) und »Der Klügere tritt nach« (Lukas’ älterer Bruder). Trotz heißer Sommertage, kein Ort für ein sonniges Gemüt.
Wnendt und der Autor, Podcaster und Comedian Lobrecht haben gemeinsam an dem Film gearbeitet, der die Zeit vor 20 Jahren, als Kanzler Schröder seine New Economy durchsetzte, authentisch, knallig und kompromisslos aufruft, ohne dass er deshalb historisch abgelegt wirken würde. Sie haben vor Ort gecastet und ihre‚Helden’ auf der Straße gefunden, die sich zum Quartett mit dem Neuen, Sanchez (Aaron Maldonado Morales), komplettieren. Laien kann man sie nicht nennen, sie sind vielmehr Profis ihres Lebens.
»Sonne und Beton«, Regie / Buch: David Wnendt & Felix Lobrecht, D 2023, 119 Min., Start: 2. März