„Warnung! Diese Aufführung kann Ihr Verständnis vom Sinnzusammenhang der Gegenwart nachhaltig beeinträchtigen!“ Was sich mit dem Ausrufezeichen, jenem grundsätzlich suspekten Satzzeichen schmückt, muss erst einmal mit Vorsicht genossen werden. Wird hier tatsächlich vor einem intellektuellem Stroboskop gewarnt oder ist es nur eine Finte, die der Uraufführung von „New Joy“ am Schauspielhaus Bochum vorab mehr Aura verleihen soll?
Für eine Klärung dieser Frage bleibt keine Zeit, denn schon sind die sechs Performer*innen auf der Bühne. Noch während die Plätze im Zuschauerraum eingenommen werden, rennen sie dort herum, nehmen miteinander Kontakt auf, rennen wieder auseinander, setzen sich und stehen gleich wieder auf. Dabei wird gesprochen, miteinander, so scheint es wenigstens zuerst, in Dialogen und kleinen Gruppen, nicht durcheinander, sondern fast durchgehend abwechselnd. Auf Deutsch, Französisch und Englisch. Aber die Interaktion ist auch nur eine Finte. Was wirkt, als würde in Repliken aufeinander Bezug genommen, sind nur Sätze, die in sich zwar sinnvoll sind, aber keinerlei Bezug zueinander haben. Na klar, in der Arbeit von Eleanor Bauer und Chris Peck geht es um die weltweiten Datenströme. Und in dieser Anfangssequenz lauschen wir wohl nur diesem riesigen Strom an Information, der scheinbar ungeordnet durch die Maschinenhirne fließt.
Herz oder Kohlrabi?
Wie sieht es im Inneren von Computer, Internet, Chip und co. aus? Da ist alles aus Hartschaum und pastellfarben. Es gibt ein rosafarbenes, bauchiges Ding, das gleichermaßen an ein Herz wie an eine Kohlrabi-Knolle erinnert. Auf einem fahrbahren Drehfuß ist ein kastenförmiges Objekt, das vage an einen uralten Röhrenfernseher denken lässt. Organisch anmutende Verästelungen stehen herum sowie ein großer Klotz in Marmoranmutung. Diese pittoreske digitale Welt wuchert bis in den Zuschauerraum, wo über den Köpfen und zwischen den Gästen ebenfalls Obskures herumhängt und -liegt.
Doch wurde nicht ein Cyber-Acapella-Musical angekündigt? Genau. Es wird gesungen und getanzt. Erst einmal klingt es mächtig nach György Ligetis "Aventures/Nouvelles Aventures". Dann aber finden die Performer*innen ihre Sprache, ein altmodischer Beatbox-Groove wird dazugemischt und der nächste Song könnte fast von „Palais Schaumburg“ sein. Wie die NDW-Helden um Holger Hiller sind auch hier die Texte oftmals nah am Schlager, um gleich darauf in feines Dada abzurutschen. Ecriture automatique, sinnlose Sprachspiele und Cut-up grüßen.
Die schönsten Augenblicke hat der Abend dort, wo er mit der Konvention des Musicals spielt. Und dort, wo die Übertitel sich über die reine Sinnvermittlung erheben und freidrehen. Getanzt wird ebenfalls. Sehr hübsch wird dabei aus den sechs Tanzenden, die mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in die Arbeit gehen, ein Ensemble geformt. Nicht ganz so brillant, wie es zuletzt Richard Siegal in Köln und Gelsenkirchen schaffte, aber doch beeindruckend. Veronika Nickl und auch Michael Lippold halten gut mit den Profis mit, unter denen allerdings William Bartley Cooper heraussticht. Gesanglich ist dagegen Nickl die uneingeschränkte Königin des Abends. Und – unsichtbar im Hintergrund – Lukas Tobiassen, der mit technisch perfekter Live-Elektronik die Show und die Komposition von Chris Peck am Laufen hält.
Eine riesige Wurst über den Köpfen
Zum Abschluss wird es dann noch interaktiv und das Publikum darf einige der Bühnenelemente durch die Reihen reichen. Da wabert eine riesige Wurst über die Köpfe, nebenan geht ein quietschbunter Virus auf Reisen. „New Joy“ ist auch und vor allem sehr unterhaltsam mit wenigen zu vernachlässigenden Längen. Die tiefgehende Irritation und Verunsicherung bleibt aber aus. Dada bleibt eben immer Dada, egal ob es sich im Cabaret Voltaire, in der NDW oder im Datenstrom materialisiert. Wir sind den Nichtsinn längst zu sehr gewohnt, als dass er unsere Sicht auf die Dinge noch einmal neu schreiben könnte.
Wieder am 27. Februar
1., 2., 6., 8., 10., 14. und 16. März