REALO-MÄRCHEN
60 Jahre Deutschland, 60 Jahre »Joschka und Herr Fischer«: Pepe Danquart dokumentiert ein Leben als öffentliche und politische Biografie.
Es war ein langer Weg, er führte nicht nur durch grüne Auen, wie der Anfang von Pepe Danquarts Polit-Biografie suggeriert, wenn der »Held« Joschka Fischer zur Italo-Western-Musik von Leone/Morricone unter den Augen vieler Kameramänner im Watt watet. »Eine Zeitreise durch 60 Jahre Deutschland« heißt die außergewöhnliche und mit fast zweieinhalb Stunden sehr lange Dokumentation im Untertitel. Diesen Anspruch erfüllt der Film, der die Mutation von Joschka zu Joseph Fischer, vom Ministranten aus dem CDU-Stammmilieu der Vertriebenenvereine in den Straßenkämpfer, in den Parteistrategen, in den Landesminister und Vize-Kanzler (1998 bis 2005) begleitet und begründet. Wobei die Verwandlung und Entwicklung vom Geschichts-Objekt zum handelnden Subjekt noch erstaunlicher ist, wenn man einige seiner früheren Genossen, Kommunarden und Anarchos sieht, die die Goethe’sche Maxime von der Dauer im Wechsel anscheinend eher weniger befolgt haben.
Fischer betrachtet, kommentiert, reflektiert und erläutert in einem bunkerartigen Lichtspielraum, einem betonierten Heimatmuseum, die eigene und die Nachkriegs-Geschichte, was in gewisser Weise identisch ist. Nie abstrakt, immer analytisch und durchdacht emotional. Danquart flankiert Fischers »oral history« mit Filmmaterial und zehn Zeitzeugen, darunter Katharina Thalbach, Daniel Cohn-Bendit (»Austern für alle«), Roger de Weck und die Rockband Fehlfarben (»Es geht voran«).
Auf die Mythen der Kindheit (»arm, aber herrlich«) folgt für den 1948 in Gerabronn geborenen Metzgerssohn das »Aufwachsen im Zwielicht« zwischen demokratischem Sonnenaufgang und dem Dämmer alten Denkens, restaurativer Tendenzen und verdrängter Nazi-Vergangenheit. Stichworte und Stichdaten: Nürnberger Prozesse und Auschwitz-Prozess, Mauerbau – und Mauerfall, Rock’n’Roll, Drogen und lange Haare im Konflikt mit Sekundärtugenden, Vietnam und die Folge, dass die Amerikaner nicht mehr die good guys waren, Revolte in Berlin, Pariser Mai-Unruhen, RAF und Frankfurter Häuserkampf.
Dem Reaktionsschema Provokation–Reizbeantwortung unterlag auch Joschka, der Fotografen-Lehrling ohne Abitur, der Adorno- und Horkheimer-Hörer, Arbeiter auf Schicht, Taxifahrer (»Im Taxi bin ich zum Realo geworden«), Antiquar und Experimentator im »Laboratorium der Zukunft«. Fischers Damaskus-Erlebnis bringt die Bleierne Zeit des Herbstes 1977 mit der Schleyer-Ermordung und sorgt für die Erkenntnis, dass »Gewalt eine Fratze produziert«.
Die Generation außer Atem fand dann zum langen Atem während der breit aufgestellten Bürgerbewegung gegen Atomkraft, Umweltzerstörung und Nato-Doppelbeschluss. Hier wird der Politiker Fischer geboren, den das sektiererische Blumenkinder-Appeal seiner Partei, der er 1982 beitrat, von Anfang an nervt, der 1985 im hessischen Umweltministerium (»gefangen wie ein Tier«) Lehrtage absolviert und den Apparat zu bedienen lernt, der die Grünen auf Regierungskurs bringt, deutsche Soldaten in den Krieg schickt, dem Appeasement der Fundis die Stirn bietet und den Amerikanern in der Irak-Frage entgegentritt, der sich auf symbolische Handlungen versteht und der Verachtung und Hass von Freund und Feind in Respekt umwandeln kann.
Joschka Fischer, Ehrendoktor der Universität von Haifa, Elder Statesman, Vortragsreisender und Chef einer Beraterfirma, hätte sich mit seiner rhetorischen Begabung, dem taktischen Instinkt, dem Talent zum Pokerface und seiner rationalen Vernunft (wie übrigens auch Otto Schily) wohl eher im Senat des alten Roms als in der Berliner Republik zu Hause gefühlt.
»Joschka und Herr Fischer«; Buch und Regie: Pepe Danquart; Deutschland 2011; 140 Min.; Start: 19. Mai 2011.
Start: 12. Mai 2011.
DIE WELLENBRECHERIN
Leben und Leiden der Eugenia Ginzburg »Mitten im Sturm«
Enthusiastisch beschwört sie mit lyrischen Wortbildern im Hörsaal der tatarischen Stadt Kasan das russische Erbe und Nationalgefühl. Kein Zweifel, die Professorin für Marxismus-Leninismus, Eugenia Ginzburg, ist eine Patriotin, überzeugte Parteigenossin und engagierte Kommunistin. Stalin müsste stolz auf ihr Glaubensbekenntnis sein. Aber der rote Zar unterliegt dem paranoiden Wahn, von einer Welt des Verrats und der Verschwörung umstellt zu sein, sieht die Idee der permanenten Revolution von trotzkistischen Konterrevolutionären bedroht und Intellektuelle vom Virus des Bürgerlichen und des Formalismus infiziert. Den Säuberungen und Schauprozessen 1934 fallen Zigtausende zum Opfer. Die Revolution frisst ihre Kinder – immer wieder, ob im Paris des Robespierre oder im Reich des Iosseb Dschughaschwili, der sich den Kampfnamen Stalin gibt.
Auch die Jüdin Eugenia Ginzburg, die von 1904 bis 1977 lebte, wird wegen »Verfehlungen« und angeblicher Kollaboration mit dem Klassen-feind die Lehrbefugnis entzogen, Kollegen und Freunde ducken sich weg und nicken den Willkürakt ab, den sie noch in Moskau persönlich abzuwenden versucht hatte. Es folgen Verhaftung und Verhöre. Dem Ritual der Selbstbezichtigung, dass die KP von der katholischen Inquisition übernommen hat, verweigert sich Ginzburg trotz Hunger- und Kältefolter. Das Urteil lautet: zehn Jahre Zwangsarbeit im Gulag. Ihr Ehemann wird sich in der Folge im Gefängnis umbringen, ihre Söhne kommen in staatlichen Gewahrsam. Sippenhaft.
Ginzburg aber behält ihren eigenen Kopf und ihre klare Vernunft. Darin gleicht sie dem Individualisten Schiwago, dem Helden von Boris Pasternak. Wie auch Marleen Gorris’ Film den Spuren David Leans folgt, ohne dessen symbolische Bildmacht und epische Wucht zu erreichen. Die Fahrt im Zug gen Sibirien, Lagerleben, die Arbeit als Holzfäller im Wald bei 50 Grad Minus, Demütigungen, Selbstmorde, Verzweiflung bleiben kleinformatiert. Erst dank des human gesonnenen, abgeklärten Lagerarztes Anton Walter, einem Wolgadeutschen (Ulrich Tukur), fasst Eugenia wieder Mut und Hoffnung, unterstützt durch Brandy, Lebertran, die Literatur von Puschkin und vor allem durch die Liebe. »Mitten im Sturm« ist gewiss kein großer Film, aber er hat eine glühende Hauptdarstellerin: Emily Watson, die in diesem Schreckensbericht aus dem Jahrhundert der Ideologien die Wellen des Terrors bricht.
»Mitten im Sturm«; Regie: Marleen Gorris; Darsteller: Emily Watson, Ulrich Tukur, Ian Hart, Benjamin Sadler; Deutschland/Polen 2009, 106 Min.; Start: 5. Mai 2011.
MONA IM WUNDERLAND
»Bibliothèque Pascal« von Szabolcs Hajdu
Ein paar Mal möchte man kopfschüttelnd aus dem Kino flüchten, doch dann hält es einen doch auf dem Platz. Die Frage, wie diese chaotische, abstruse Geschichte wohl enden möchte, ist drängender als der Ärger über all ihre Ungereimtheiten, stilistischen Sprünge und konfusen Erzähltechniken.
Eine junge Frau, Mona (Orsolya Török-Illyés), sitzt einem Fürsorge-Beamten gegenüber und muss Rede und Antwort stehen, weshalb sie ihre kleine Tochter aus der Hand gegeben habe, wer und wo der Vater sei, was sie in der Zeit, als sie ihre Mutterpflicht vernachlässigte, gemacht habe und ob sie jetzt fähig sein könne, ihr Kind wieder in Obhut zu nehmen. Die Erinnerungsmaschine wird angeworfen, die Realität weicht auf und wird durchlässig, Monas Hirnapparat springt an – und hervor schießt eine wilde Räuberpistole, die für die rumänisch-ungarische Lebenskünstlerin über Wien nach England führt, wo sie in einem exzentrischen Puff landet. Dem Balkan-Blues von Szabolcs Hajdu gibt er den Titel: »Bibliothèque Pascal«. Denn der Besitzer des Etablissements hat sein Stundenhotel literarisiert. Der Kunde kann sich bei Shaws Heiliger Johanna, Shakespeares Desdemona, Lolita, Pinocchio oder Dorian Gray, ausgerüstet mit den entsprechenden Re-quisiten, entspannen.
Wahrsager, Gaukler, Gauner, Spinner und Schlimmeres stellen das Personal dieses phantastisch planlos zwischen Lewis Carroll, David Lynch, Emir Kusturica und herbem Sozialrealismus umherirrenden Films. Als Monas Kind das zweite Gesicht entwickelt und von seiner Ersatzmutter gegen Bezahlung als Jahrmarktsattraktion begafft wird, gebiert ihr Traum und Schlaf Ungeheures: Er lässt eine riesige Posaune aufgehen, aus der eine Militärabteilung unter Führung des toten Großvaters zieht, zum Radetzkymarsch (dem Balkan ging es besser, als noch die k.u.k. Monarchie herrschte) in Liverpool einmarschiert und Mona aus dem Bordell befreit. Ein Märchen-Ende, bunt und froh. So lebten Mutter und Kind glücklich und zufrieden, wenn sie nicht gestorben sind.
»Bibliothèque Pascal«; Regie: Szabolcs Hajdu; Darsteller: Orsolya Török-Illyés, Oana Pellea, Razvan Vasilescu, Shamgar Amram; Ungarn/Deutschland 2010; 111 Min.; Start: 12. Mai 2011.
LA FOLIE
»Barfuß auf Nachtschnecken« mit Ludivine Sagnier und Diane Kruger
Lily ist anders. Nicht von dieser Welt, wenn damit die zivilisatorisch regulierte, Konventionen und Konformität gehorchende gemeint ist. Sie lebt mit und in der Natur, in einem Haus am Wald. Sie hält sich einen Truthahn, fängt Mäuse und Maulwürfe und sammelt die Kadaver von Hasen und anderem Kleinvieh im Tiefkühlschrank, zieht ihnen das Fell über die Ohren und bastelt und näht daraus Pantoffeln und anderen pelzigen Krimskrams. Lily ist eine Art Elfe, ein Elementargeist und Nymphchen oder auch eine ins Tragisch-Komische gewendete Pippi Langstrumpf. Ihr Revier hat sie markiert mit gehäkelten Leibchen für die Baumstämme und gesäumt mit Puppenkörpern, die wie die Fetische von Naturvölkern einen magischen Kreis bilden, in dessen Mitte Lily (Ludivine Sagnier) einsam, aber hellwach, nahezu autistisch, doch mitteilsam, manchmal boshaft, oft störrisch, furchtsam und mit sensitiver Energie lebt.
In ihr Lebensmärchen dringt gewaltsam die Realität, als ihre Mutter von einer Sekunde auf die andere an einem Aneurysma stirbt. Lily hat nur noch ihre ältere Schwester Clara (Diane Kruger), die als Anwältin mit ihrem Mann in der Stadt lebt. Jemand muss ein Auge auf die verhaltensauffällige Lily haben, so dass Clara sich eine Auszeit nimmt und in ihr Elternhaus zieht, was in gewisser Weise regressiv ist, aber auch die Chance birgt, sich mit der Familiengeschichte zu konfrontieren (der Vater hat sich erhängt in der Scheune, die Lily zu ihrem »Büro« umfunktioniert hat) und das eigene Lebensmuster zu überdenken. Ein langer Sommer verändert ihren Blick. Die Schwes-tern praktizieren eine »folie à deux«, in der für eine Nacht auch mal Männer Platz haben.
Lilys bunt bemalte, mit Blümchen verzierte, wie mit Zuckerguss glasierte Hippie-Solo-Kommune ist gleichermaßen Gefängnis wie Freiraum, Isolierstation und Kindergarten. Man mag zweifeln, wie lange die grüne Utopie währt, aber diese Skepsis gilt ja nicht nur fürs Kino.
»Barfuß auf Nachtschnecken«; Regie: Fabienne Berthaud; Darsteller: Diane Kruger, Ludivine Sagnier; Frankreich 2010; 103 Min.; Start: 5. Mai 2011.
PUPPENSPIELER LINKER HAND
Jodie Fosters »Der Biber« mit ihr und Mel Gibson
Victor Clooney alias Jack Lemmon bei Billy Wilder bzw. »Die Filzlaus« Jacques Brel bei Eduardo Molinaro – da müsste es bei Jodie Foster geklingelt haben, als sie ihren Film-Ehemann Walter Black (Mel Gibson) auf ähnlich missliche Weise wie die der Vorbilder für den Suizid präpariert. Denn Black, der entsprechend schwarz sieht, schwer depressiv ist und in einem tiefen Loch gefangen, sieht keinen anderen Ausweg als den Tod. Nachdem seine Frau ihn vor die Tür ihres Heims mit zwei Söhnen gesetzt hat, versucht er sich umzubringen: zunächst am Schlips in der Dusche zu erhängen (die Stange reißt), dann vom Balkon zu stürzen; doch er stolpert in die Ärmchen einer Handpuppe, die er beim Auszug mit allem anderen Krempel in Kartons mitgenommen hat. Das Stofftier hat ihn gerettet: Der Biber, ein sozial kompetenter Nager, wird Walters zweites Ich, sein Sprecher, Kommunikationsorgan, Mentor, Coach. Walter wird zum Puppenspieler seiner selbst – und siehe da, das Leben lebt sich neu und lässt sich wie mit links entertainen. Auch wenn seine Umgebung ihn für gaga hält. Gibson, der Ex-Womanizer, Supermann, Patriot, christliche Fundamentalist und gestürzte Hollywood-Heros schuftet sich hier beachtlich an (offensichtlich den eigenen) Schwierigkeiten und Allüren ab.
Der Spielzeug-Fabrikant bringt ein Biber-Heimwerker-Set auf den Markt, das sich als Verkaufsschlager erweist und seinen Erfinder zum begehrten Titelhelden und Talkgast macht; Mrs Black teilt wieder Tisch und Bett mit ihm; nur der älteste Sohn, Porter, bleibt auf Distanz und kämpft sich am Vater-Problem ab, zumal er Wesens-Verwandtschaften erkennt, die ihn an sich selbst verzweifeln lassen. Außerdem ist da noch seine High-School-Liebe und wartet auf gegenseitige Bewährung.
Allerhand zu tun, um das Familien-Modell zu retten, an dem Jodie Foster (darin das perfekte All American Girl) so viel liegt. Komisch, dass man den Amerikanern offenbar immer wieder die einfache Wahrheit enthüllen muss, dass nicht everything okay ist, Schmerz und Scheitern dazu gehören und wir selten Herr sind im eigenen Haus. Die therapeutische Maßnahme scheint zu gelingen. Aber wie jeder klassisch Gebildete und psychoanalytisch Geschulte weiß: 1. erfolgt die Krisis und 2. muss man sich aus dem Abhängigkeitsverhältnis befreien, die delegierte Verantwortung zurückgewinnen, die Kontrollinstanz absetzen und sich zum besseren Ich vorarbeiten. Anders gesagt: kill the beaver. Die brachiale Maßnahme, die Walter anwendet, ist nicht zu empfehlen und macht es noch schwieriger, den Film einem Genre zwischen Komödie und Drama, Zerstörung und Heilung zuzuordnen.
»Der Biber«; Regie: Jodie Foster; Darsteller: Mel Gibson, Jodie Foster, Anton Yelchin; USA 2010; 91 Min:, Start: 12. Mai 2011.