Irgendwo hat immer noch was auf. Zwei Männer sind unterwegs durch eine nächtliche Stadt unter einem dunkeltürkis-matten Himmel. Die Fassaden stehen längst schwarz und schweigend, der kleine Dicke und der große Dünne werfen lange Schatten und suchen nach einem hellem Fenster, einer Bar oder Kneipe, wo es noch ein Bier für sie gibt. Wenn der Wirt schließlich die Rolladen herunterlässt, schauen sie ihm dabei melancholisch zu und ziehen weiter, von Bier zu Bier. Sie reden, schweigen, seufzen, rauchen zwischendurch den Mond an.
Über was man eben so redet in solchen Nächten – vergangene Liebschaften, verpasste Möglichkeiten, Einsamkeiten, aber auch schön verschraubte Themen wie der Wunsch, ein Wisent in polnischen Wäldern werden zu wollen, die Philosophien des Großvaters, der Förster im Böhmerwald war oder wie es ist, mit einem Rettungssanitäter über das Ende der Geschichte zu diskutieren: »Wir sind längst schon da. Seit langem.«
»Nachtgestalten« heißt die gemeinsame Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler. Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor. Von ihm stammen die aus dem tschechischen übersetzten Romane wie »Nationalstraße« und »Vom Ende des Punks in Helsinki«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den er auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Nicolas Mahler, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet in Wien, ist Comiczeichner und Illustrator und hat bereits einige Werke von Thomas Bernhard und den »Ulysses« in seinen typischen Zeichenstil übertragen.
Die beiden kennen sich schon länger und treffen sich öfter in Wien, essen zusammen Schnitzel und trinken dazu böhmisches Bier. An einem dieser Abende, nach ungefähr sechs Budweiser vom Fass, stand dann die Erkenntnis, dass man etwas zusammen machen wollte. »Ich hatte Nicolas mehrere Geschichten mit einem wiederkehrenden Grundgedanken geschickt: Zwei Freunde gehen durch die Prager Nacht von Gasthaus zu Gasthaus und erzählen sich kleine private Geschichten. Dabei kommt immer wieder die ganz große Geschichte zum Vorschein«, so hat Jaroslav Rudiš das Grundkonzept in einem Verlags-Interview beschrieben.
»Nachtgestalten« ist eine stille wie großartige Lektüre geworden. Sowohl von den Dialogen her, die auf das knappste geschnitten sind und trotzdem noch adäquat Themen wie die Schlacht von Austerlitz, die Produktion von Zyklon B und den Holocaust streifen, als auch vom speziellen Zeichenstil Mahlers. Dessen reduzierte Farbgebung, der Wechsel zwischen Lichtern und Dunkelheiten, die emotionale Charakterisierung der beiden Männer, die dafür nicht einmal Augen brauchen und schöne grafische Ideen, etwa wenn die Lichtkegel, unter denen die beiden Herren ihr Bier trinken, plötzlich ihre Kontur verändern und Wellen schlagen. Zu ernst soll es dann doch nicht werden, wenn es nach Nicolas Mahler geht: »Nur traurig ist mir zu wenig. Traurig ist schön und gut, aber am besten ist es, wenn es schön traurig und lustig ist. Dann ist mir die Sache gelungen.«
Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler: »Nachtgestalten«
Luchterhand Literaturverlag, 144 Seiten, 18 Euro