St. Pauli sei heute jene »maximal durchstrukturierte Endverkaufsmaschine, die dort ab Ende der 60er Jahre langsam aufgebaut wurde« sagte Rocko Schamoni kürzlich in der Gesprächssendung »Kölner Treff«. »Ein unendlich langer Melkstall, wo man die Touristen reindrückt, und am Ende fahren sie mit dem Bus wieder zurück in die Provinz.« Nach Fischmarkt und Musicalbesuch wird noch schnell über die Herbertstraße gebummelt zum folkloristischen »Kiez gucken« – schlimmstenfalls im Rahmen einer Comedystadtführung.
Wäre man garstig, könnte man Rocko Schamonis neuen Roman »Große Freiheit« als weiteres Produkt der St. Pauli-Verwertungsmaschine einordnen. Schließlich hat das bei Heinz Strunk und dessen Serienkiller-Epos »Der goldene Handschuh« auch hervorragend geklappt – inklusive nachfolgender Verfilmung und Bühnendramatisierung. Zwar weniger heftig und erbarmungslos als bei Strunk, aber mit Kiez-Lokalkolorit. Dass »Große Freiheit« als Beginn einer Triologie angekündigt ist, unterstützt diesen Gedanke zwar zusätzlich – dann aber liest man, dass sich der Autor, Musiker und Künstler Schamoni schon länger mit der Lebensgeschichte des Puffbosses Wolli Köhler beschäftigt hat. Der Interviewband »Wolli Indienfahrer« des legendären Hubert Fichte mit Gesprächen mit Köhler, Prostituierten und Strichern, der 1978 erschien, fasziniert Rocko Schamoni nicht erst seit gestern.
Marx und Mao auf St. Pauli
Anfang der 60er Jahre verschlägt es Köhler, der Jungen aus der Provinz, nach Zwischenstationen bei der Volkspolizei, im Zirkus und der Zeche Auguste Victoria in Marl nach Hamburg. Er will raus aus der bürgerlichen Enge jener Zeit, sucht das Leben, Abenteuer und die große Freiheit. Er landet auf St. Pauli und findet düstere Spelunken, grelle Lichtreklamen, schnellen Sex, Glücksspiel und Gewalt. Köhler kommt an in »St. Liederlich«, wie die Paulianer ihren Stadtteil selbst nennen, und scheint doch nicht richtig zu passen in diese Welt. Er liest Marx, Hegel und Camus, bewundert im Kino den lässigen Jean-Paul Belmondo in »Atemlos«, besucht das erste Konzert der damals noch völlig unbekannten Beatles und arbeitet sich konsequent nach oben. Als er ein eigenes Etablissement mit 16 Zimmern übernimmt, hängt er Poster von Mao und Che auf und erklärt das ganze zu einem kommunistischen Puff. Wovon die dort arbeitenden Damen wenig zu überzeugen sind.
Leider kommen die weiblichen Charaktere etwas zu kurz in Schamonis Roman. Lässt man die obligatorische, scheinbare Rotlichtromantik außen vor, erscheint Köhler in Schamonis Lebensabschnittbeschreibung als ein stets zweifelnder Mann und Idealist: »Er könnte ja versuchen, es anders zu machen als all die anderen vor ihm. Es besser zu machen als all die Ausbeuter. Er könnte ja versuchen, der erste gute Puffboss von St. Pauli zu werden. Kann es so etwas geben?«
Rocko Schamoni
»Große Freiheit«
hanser blau, München, 2019
Roman, 288 Seiten, 20.- Euro