EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Die Trotzphase beginnt beim Menschen im zweiten oder dritten Lebensjahr. Das Kind sagt nein zu allem, auch zum Gegenteil. Es will nicht ins Bett gehen, aber auch nicht aufbleiben. Es wirft seinen Lieblingsteller zu Boden, den mit den Bärchen, und brüllt danach aus Wut über die Scherben die ganze Welt zugrunde.
Unter Erwachsenen hat Trotz einen schlechten Ruf. Beharrt jemand störrisch auf seiner Meinung, auch wenn ruhig vorgetragene Argumente oder die Mehrheit anderer dagegen spricht, dann handelt es sich entweder um einen Vorgesetzen oder um eine unreife Persönlichkeit, die vom infantilen Negationsreflex noch nicht zu den reifen Formen der Unterordnung gefunden hat.
Dass ausgeprägter Trotz dennoch bei nichtkindlichen Angehörigen von Firmen oder Behörden ausgiebig vorkommt, mag sich daraus erklären, dass in einer affektkontrollierten Gesellschaft wie der unsrigen schlecht angesehene Regungen wie Trotz sich bei leicht veränderter Sicht der Dinge unversehens in hoch angesehene Ideale wie das Streben nach Gerechtigkeit verwandeln können. Diese Kippfigur ist bekannt aus Kleists Novelle »Michael Kohlhaas« und hat seine ontogenetische Entsprechung darin, dass die kindliche Trotzphase entscheidend für die Bildung des Selbstbehauptungswillens ist.
Im Gegensatz zur Trotzphase hat von der Gierphase noch niemand gehört. Was vermutlich daran liegt, dass die Gier den Menschen phasenlos vom ersten bis zum letzten Atemzug beherrscht. Gemeinsam ist Trotz und Gier, dass sie das Selbstgefühl dramatisch vergrößern, bei ebensolcher Trübung des Realitätssinns. Gier war es zweifellos, die 2010 die Behörden der Stadt Duisburg die Love Parade genehmigen ließ, Gier nach Ruhm. Etwas anderes aber muss es gewesen sein, das, wie im September bekannt geworden, dieselben Behörden dazu bewog, die Trauerfeier für die Opfer der Love Parade Ende Juli zu verbieten. War es Trotz? Trotz, weil die ersehnte Erhöhung durch die Love Parade sich in deutschlandweite Demütigung verwandelt hatte? Trotz, weil die Trauerfeier ein Jahr danach auf Wunsch der Opferangehörigen von der Staatskanzlei ausgerichtet wurde und nicht von der Stadt?
Duisburgs Stadtdirektor Peter Greulich hat nach dieser Gedenkfeier im MSV-Stadion Ministerpräsidentin Kraft einen Brief geschrieben, in dem er ihr vorwirft, sie habe auf einem »nicht genehmigten Schwarzbau« – der Bühne – geredet. Die rote Hannelore spricht auf einem Schwarzbau – das ist Direktor Greulich natürlich entgangen, denn Trotz trübt, wie Gier, die Klarsicht.
In der Tat, Duisburg trotzt. Die ganze Stadtverwaltung hat sich auf den Boden geworfen, brüllt und strampelt mit den Beinen: »Ihr werft uns vor, etwas genehmigt zu haben. Gut! Dann genehmigen wir eben gar nichts mehr!« Seitdem wird alles, was nicht in atomkriegssicheren Gebäuden stattfindet, von Duisburgs Behörden untersagt, was vor allem die freie Kultur- und die Klubszene lahmlegt. Nein, nein, nein, so schreit es aus allen Rathausfenstern. Duisburgs Kulturschaffende klagen über ein Klima des Verbietens.
Wie sollte aber nun die Landesregierung auf den Duisburger Stadttrotz reagieren? Leider helfen in diesem Zustand weder Schimpfen noch liebevolle Gesten, Argumentieren schon gar nicht. Trotzköpfchen ist noch zu klein, um zu begreifen, warum Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft ihm etwas vorwerfen, das so viel Spaß gemacht hat. Nun fühlt es ohnmächtige Wut, weil die Erwachsenen immer stärker sind. Dabei hat es sich in eine Situation hineinmanövriert, aus der er allein nicht mehr herauskommt. Dem Kommunikationsabbruch durch den Vertrotzten sollte aber auf keinen Fall durch emotionales Wegwenden begegnet werden. Guter Rat an die Staatskanzlei: Tief Luft holen und zählen, um gelassen zu bleiben. Zum Beispiel bis 55.000. So viele Stimmen braucht nämlich der Bürgerentscheid, um das Abwahlverfahren gegen Adolf Sauerland einzuleiten. Danach, dessen sind sich die Pädagogen sicher, wird die Duisburger Trotzphase zu Ende sein.