EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Dem Kulturhauptstadtjahr fallen allmählich die Blätter ab, da stellt sich die Überlegung: Was bleibt? Diese Frage, die am Ende von etwas öfter zu hören ist, ist nicht nur die Frage nach der Zukunft von 1.471 »Ruhr.2010«-Mitarbeitern, die ein Jahr lang in komfortablen BMW-Limousinen chauffiert wurden und ab dem 1. Januar wieder Golf fahren müssen. Es ist auch nicht die Frage nach dem Verbleib von zwischen den 53 Gemeinden des Ruhrgebiets eingerichteten 53 mal 53 Gremien, die das Funktionieren interkommunaler Kulturhauptstadt-Aktionen wie das kurzzeitige Aufsteigen 29 kleiner gelber Ballons überhaupt erst möglich machten. Nein, es ist mehr.
Seit einiger Zeit darf sich jedes Jahr nicht nur eine Stadt mit dem Titel »Kulturhauptstadt Europas« schmücken. 2010 sind dies neben Essen, Istanbul und dem ungarischen Pécs das niederländische Onwerkelijk on Zee, das italienische Porcamiseria, das französische Rienville, das englische Nothingham sowie 21 weitere Städte auf egal welchem Kontinent.
Hier zeigte sich eine Chance. Doch der Versuch des »Ruhr.2010«-Fähnleinführers Oliver »G.« Scheytt, in Brüssel eine Verlängerung seiner Hauptstadtzeit um weitere 50 Jahre zu beantragen, scheiterte. Und nun stellt sich die bange Frage: Wohin ab dem 31. Dezember mit dem Wir-Gefühl?
Das Ruhrgebiet ist groß darin, Industrieruinen und pensionierte WDR-Intendanten zu reaktivieren. Aber reicht diese Fähigkeit? Müsste nicht etwa für den allmählich abgenutzten Slogan von der Metropole Ruhr ein größerer, gewaltigerer, ein schlichtweg alles übersteigender Ersatz gefunden werden? Einen kleinen Erfolg bedeutet, dass wenigstens eine der erfolgreichen Ideen des Hauptstadt-Jahres fortgeführt wird, nämlich die Aktion »Stillleben« auf der A40; zumindest zwischen Essen und Bochum währt sie noch bis Ende 2012.
Doch machen wir uns nichts vor: Das Gebot der Nachhaltigkeit, das jeder Kulturhauptstadt aufgegeben ist, oder, wie es die »Ruhr.2010«-Macher auf ihre unnachahmlich weltläufige Art ausdrücken, der Sustainability Check zielt auf nicht weniger als auf die Frage nach dem Fortbestand des Zugewinns an Schönheit und Kreativität im Ruhrgebiet.
Dieser Zugewinn durch das Kulturhauptstadt-Jahr ist minimal, kaum messbar. Gerade darum gilt es, ihn zu verteidigen. Wie aber? Geld ist keines da, um beispielsweise Mai für Mai stadtgrenzenüberschreitend 29 kleine gelbe Ballons aufsteigen oder sommers auf allen Seen im Revier hohle Eisberge aus Pappe dümpeln zu lassen.
Da weist eine geniale Idee aus der Hauptstadt der Kulturhauptstadt, aus Essen, den Weg aus der Not. Der Rat der Stadt nämlich hat eine Steuer für Solarien beschlossen: Alle Betreiber gewerblicher Hautverdunkelungsgeräte sollen künftig pro Monat und Sonnenbank 20 Euro an die Stadtkasse zahlen. Eine hirnverschmurgelte Idee? Mitnichten. Der Begriff Bräunungssteuer, mit dem diese Abgabe tituliert wird, weist auf ihre Bedeutung: Hier handelt es sich um ein bislang beispiellos zielgenaues und hochgradig nachahmenswertes Mittel zur Entwicklung von Schönheit im öffentlichen Raum.
Denn leiden unsere im Jahr der Kulturhauptstadt so äußerst sensibel gewordenen Geschmacksnerven nicht unter der Präsenz tausender menschlicher Brathähnchen in Fußgängerzonen? Ja. Und leiden sie nicht auch unter noch viel mehr ästhetischen Verirrungen dieser Art? Abermals ja. Weshalb nicht nur das Solarbräunen der Haut strengstens besteuert werden muss, sondern auch das friseurale Herstellen sowie Tragen von Vokuhila, das Trimmen bleistiftstrichdünner Szene-Bärtchen, das Wabernlassen billiger Parfümwolken über Gesamtschülerinnen sowie das Verbreiten großmäulig-hohler Slogans in städtischen Theatern wie »Erfinde dich selbst«.
So und nur so wächst ästhetische Nachhaltigkeit. Kann das Ruhrgebiet die Welthauptstadtsmetropolenkapitale der Schönheit sein – über 2010 hinaus.