EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Früher mal war Nordrhein-Westfalen das Land der Arbeit: der ruhrigen Maloche, des rheinischen Kapitalismus. Aber längst ist der coole Westen das Dorado der Künste und des Müßiggangs geworden. Was unseren Vätern Schicht war und Feierabend, das ist uns die spätvormittägliche Kreativphase, mit einem Glas Hugo auf dem Zanotta-Sofa. Darum beneidet uns die Welt.
Nachdem jüngst ein Kompetenzteam des RVR mal rasch über den Teich gejettet war, um den New Yorkern die Sache mit der Metropole zu erklären, befindet sich nun eine Delegation von Pariser Chefs de Cuisine unter Guide Rouge-Starkritiker Jean-Luc Naret auf Pilgerreise zu uns. Denn seit wenigen Wochen ist Nordrhein-Westfalen weltoffiziell »Genussland«.
Die Promotion nahm Wirtschaftsminister Garrelt Duin persönlich vor, als er mit einem Schmatzklick das Gaumenportal www.nrw-genuss.de online schaltete. Wem also die Küche im New Yorker »Brooklyn Fare« oder bei Witzigmann in München nicht mehr fein genug oder zu einfallslos ist, der wird hier in ganze neue Dimensionen gerissen. Präsentiert doch unsere neue digitale Menükarte einen nie gekannten kulinarischen Reichtum. Zwölf feinschmeckerische NRW-Regionen wurden identifiziert und in jeder wiederum mindestens drei lukullische Spezialitäten, ja in manchen sogar eine mehr! Kein Wunder, dass Pariser Spitzenkochmützen vor Neid geknickt sind.
Blättern wir uns doch einmal lippenleckend in das hinein, was unser Schlaraffenland zu bieten hat. Und fangen wir einfach im Norden an. Da gibt es zum Beispiel die Münsterländer Töttchen, ursprünglich ein Armeleutegericht, wie das Webportal augenzwinkernd mitteilt. Genaues wird nicht verraten, aber es ging wohl so: Innereien sorgfältig überfahrener Karnickel wurden mit Hutfilz und Sauerbier zu einem selbstentzündlichen Ragout zerdrückt und mit zwei Litern Steinhäger heruntergespült. Früher jedenfalls. Heute jedoch, da die Münsterländer Großbauern dank gewinnmaximierender Gabe von Altöl ins Tierfutter es sich leisten können, zum dîner nach Paris zu fliegen, werden die Töttchen, wie uns die Website augenzwinkernd mitteilt, längst nicht mehr nach dem alten Rezept zubereitet. Stattdessen wird Karkasse vom buchenholzgeräucherten Milchlammrücken mit schäumender Zimtbutter garniert und auf Safranfenchel serviert – für den unverfälschten regionalen Charakter sorgt, dass man es einfach weiter Münsterländer Töttchen nennt.
Ähnlich und doch ganz anders die Küche im Aachener Land. Typisch das Morre-Jemöß, ursprünglich ein Armeleutegericht, wie unser Genussportal augenzwinkernd mitteilt. Seine Hauptbestandteile waren traditionell wohl Stanniolpapier, Steckrübenbruch und Kappesblätter vom Vorjahr, mit denen unbeschreibliche Dinge angestellt wurden. Die Feinschmeckerrestaurants in Aachen, die dieses »Gemüse« offerieren – derzeit kann die Website leider keines nennen –, sind jedoch längst dazu übergegangen, es mit buchenholzgeräuchertem Milchlammrücken anzurichten, garniert mit schäumender Zimtbutter und serviert auf Safranfenchel, nach Lufthansa-Art.
Ja, Nordrhein-Westfalen ist ein Taubenschlag lukullischer Varianz. So nennt unsere einfallsreiche Website dreimal »Himmel un Ähd« und je fünfmal Schnibbelbohnen und Rheinischer Sauerbraten. Endlich hat NRW (»Nichts Reicht Weiter«) auch in geschmacklicher Hinsicht zur Weltspitze aufgeschlossen. Um die noch bestehenden geringen geografischen Defizite unseres Landes auszugleichen, wird Umweltminister Remmel, wie man hört, in Kürze ebenfalls ein Webportal freischalten: www.alpenland-nrw.de.