EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Diesmal fällt Abschiednehmen vom letzten Monat wirklich schwer. Der Mai, der Mai! Was war das aber auch für ein Wonnemonat! Jeden Morgen die Sonne am blauen Himmel begrüßen! Jeden lauen Abend beim Glase im Garten sitzen! So vollkommen geriet die Balance aus Wärme und Frische, dass der Apfelbaum hier hinterm Haus volle vier Wochen in seinem weißen Schaumkleid prangte.
Und dann die Wahl. Ich habe noch die Prognosen im Ohr: Knapper Ausgang. Geringe Beteiligung. Wie anders kam’s! Alles drängte sich zu den Urnen. Entschlossen wie nie kam Volkes Wille zum Ausdruck. Zuvor: so sachlich die Debatten. So klar die Bündnisversprechen der Parteien. So leidenschaftlich die Bekenntnisse zur Stadt, zur Bildung, zu Kunst und Kultur. Mit dieser neuen Regierung können wir gut leben.
Wie, Sie schnauben? Ihre Erinnerung ist eine andere? Warten Sie ab. Wahrheit sei, nach bestimmten Konventionen zu lügen, steht irgendwo bei Nietzsche, ein Name, der in einem Kulturmagazin ernst genommen werden darf. Und Konvention ist, dass im Mai der volle Frühling herrscht. So wie zu Weihnachten der Schnee gehört und zur Familie Liebe und Geborgenheit. Warten Sie mithin ab, nach einiger Zeit wird auch Ihre Erinnerung an diesen Monat die sein, die Sie an Ihre Kindheit haben, die, die sich für einen Mai gehört.
Die sich für eine demokratische Wahl gehört. Denn das Bild muss geschützt werden: Dass das Richtige als Vordergrund wahrgenommen wird, darauf kommt es an. Sie kennen doch diese Kippbilder? Die ganze Welt ist eines. Die Fähigkeit, vorne vorn sein zu lassen, macht die Ordnung der Dinge. Das ist wichtiger als die köhlerhafte Trennung zwischen Wahrheit und Lüge.
Deren ganze Ununterscheidbarkeit steckt in den Worten Wahl, Wahlversprechen, Politik. Jeder weiß um die amöbenhafte Gestaltlosigkeit dieser Begriffe, und doch wählt jeder immer eine bestimmte Partei. Denn die Konvention heißt, es existiert ein Spektrum und da ist rot nicht gleich schwarz oder grün. Die Konvention heißt, Staat bedeutet Ordnung und Sicherheit, und Politik Führung. Dieses Bild nicht kippen zu lassen, ist der Beruf der Politiker. Politiker sind Nietzscheaner.
Haben Sie vor der Wahl mal in die Parteiprogramme geschaut? Erstaunliches steht da drin. Die CDU beispielsweise hat in den letzten fünf Jahren eine ganz ordentliche Kulturpolitik betrieben, geprägt von Respekt vor diesem gewissermaßen heiligen Kern der Conditio humana. In ihrem Wahlprogramm aber verkaufte sie die Kunst ans NRW-Marketing. Oder die Grünen: Deren führende Politiker verkörpern glaubhaft ihre Hochachtung vor der Freiheit der Kunst. Das grüne Wahlprogramm hingegen forderte von ihr Parteinahme in Sachen Klimawandel. Umgekehrt die SPD: Sie, die in ihrer ganzen Tradition »Hochkultur« als bürgerlich beargwöhnt hat, propagierte im Wahlkatalog den Schutz der Kultur vor ökonomischem Zweckdenken. Wurde in all diesen Papieren getäuscht? Und wenn, wer? Naive Frage.
Wichtig war die Wahl. Zielbewusst handeln die Politiker. Schön war, sonnig und warm, der Mai.