EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
14. April 1987: Im nordrhein-westfälischen Hattingen liegt Ulf B. (Name geändert) auf seinem Kinderbett und heult. Gerade hat er von seinem Vater eine Ohrfeige gekriegt, er weiß, er hat Schlimmes getan, zugleich lodert in ihm ein nie gekannter Stolz. Ein paar Stunden zuvor hat er das dünne kleine Glas in dem roten kleinen Kästchen am Eingang der Schule zerbrochen und seinen Finger auf den dahinter lockenden Knopf gedrückt. Das Ergebnis war großartig gewesen. Noch zwei Mal inszeniert Ulf ein ähnliches Schauspiel; dann macht er Abitur und studiert Jura. Später tritt er in die Landtagsverwaltung ein. Das Gefühl der Macht, das ihn damals erregt hatte, aber kann er nie vergessen.
9. März 2012: Ulf B. legt seinem Abteilungsleiter Hans-Josef T. beiläufig eine Umlaufmappe auf den Tisch und verabschiedet sich ins Wochenende. 12. März 2012: T. blättert die von B. überreichte Mappe auf, erstarrt und lässt sich sofort einen Termin beim Landtagspräsidenten geben. Der Politiker und der Beamte sind sich einig, dass das von B. erstellte Memorandum, nach dem lt. Geschäftsordnung des Landtages von NRW ein Haushaltsplan als in Gänze abgelehnt gilt, wenn er vom Parlament in Teilen abgelehnt wird, unabsehbare Folgen haben muss. 14. März 2012, Zweite Lesung des Haushalts: Die Oppositionsparteien müssen erkennen, dass sie keinen Handlungsspielraum mehr haben; die Regierung begreift, dass sie ihren Haushalt nicht genehmigt bekommt. Der Landtag von NRW beschließt seine Selbstauflösung.
13. Mai 2012: Nach Schließung der Wahllokale ergibt sich folgendes Bild: CDU und SPD je 34,5 Prozent, Piratenpartei 12,3, Grüne 12,1 Prozent; FDP und Linkspartei scheitern an der Hürde. Noch am Wahlabend erinnert Norbert Röttgen daran, dass er in NRW nie etwas anderes als Ministerpräsident werden wollte und kündigt eine Minderheitsregierung mit den Grünen an, Reiner Priggen wird sein Vize. Aus Protest tritt Jürgen Trittin in die Linkspartei ein, wo er Sahra Wagenknecht übernimmt. Oskar Lafontaine wandert nach Kuba aus.
15. Mai 2012: Um Begehrlichkeiten der CSU entgegenzuwirken, übernimmt Kanzlerin Merkel Röttgens Bundesumweltministerium selbst, als erstes verkündet sie eine Wende in der Energiepolitik, zurück zum Atom. 16. Mai 2012: Als Konsequenz aus der Wahlniederlage in NRW legt Philipp Rösler den FDP-Vorsitz nieder. Seine Partei wählt nun zweimal täglich einen neuen Vorsitzenden, der dann jeweils auch das Amt des Wirtschaftsministers übernimmt. Bedingt durch pausenlose Ministerentlassungen und -beglaubigungen erleidet Joachim Gauck einen öffentlichen Nervenzusammenbruch und tritt am 1. Juni 2012 als Bundespräsident zurück. Angela Merkel fürchtet einen erneuten Fehlkandidaten und übernimmt auch dieses Amt. Die Bunte schreibt, mit dem Frack habe sie endlich das zu ihr passende Jackett gefunden.
12. Juli 2012: Nicolas Sarkozy hat in seinem Wahlkampf auf die Unterstützung der Alleinregentin Angela Merkel verzichten müssen und daher Anfang Mai die Stichwahl gegen François Hollande verloren. Hollande kündigt als neuer Präsident Frankreichs sämtliche europäischen Finanzrettungsverträge auf, worauf Griechenland am 14. Juli die Insolvenz erklärt. 16. August 2012: Durch die Zuwanderung von drei Millionen Exil-Griechen ist Wuppertal zur größten Stadt Nordrhein-Westfalens geworden; zur Finanzierung von Hilfsmaßnahmen bringt die Minderheitsregierung Röttgers einen Nachtragshaushalt ein. Die Opposition verweigert ihre Zustimmung, der Landtag löst sich auf. Für Anfang Oktober 2012 werden Neuwahlen angesetzt.
30. August 2012: Ulf B. bereitet sich auf den Feierabend vor. Er weiß, er hat Schlimmes getan, doch endlich lodert in ihm wieder jener große Stolz. Er packt seine Brotdose in die Aktentasche und macht sich auf den Heimweg nach Hattingen. Zuvor schaut er kurz bei seinem Abteilungsleiter rein und legt ihm beiläufig eine Umlaufmappe auf den Tisch.