EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun, so lautet ein Bonmot. Der Satz stammt von Richard Wagner, und abgesehen davon, dass er heute etwas tümelnd klingt, weil die Zeiten des nation buildings vorbei sind – der Satz hat etwas! Denn zeugt es nicht von Weisheit, etwas zu tun, weil man genau dies tun will? Und nicht, um irgendetwas Drittes damit zu bezwecken?
So gesehen, leben in Deutschland immer weniger Deutsche. Gearbeitet wird bloß, um Karriere zu machen. Man verreist, um spektakuläre Urlaubsleistungen zu erbringen. Und geht ins Museum oder Theater, wie man in die Shopping Mall oder auf eine Party geht: Man möchte Beute machen. Man mehrt sein soziales Kapital.
Jetzt gibt es einen Sekundärgrund mehr, um das Schauspiel, die Oper oder das Konzert zu besuchen, jedenfalls in Hagen: Nämlich um auf ganz unanrüchige Weise soziale, ja, nennen wir es beim Namen: auch um erotische Kontakte zu knüpfen.
»Nie mehr alleine ins Theater« heißt ein Service, der frisch auf der Website der Bühnen der Stadt angeboten wird. Man trägt seinen Namen und das Stück ein, in das man gern in Begleitung gehen möchte. Oder auch nur einfach seine Vorlieben: Mozart zum Beispiel. Dann wartet man auf die Mails sich anbietender BegleiterInnen. Mit der, mit dem oder mit denen man dann die nächste »Hochzeit des Figaro« besuchen geht. Anbändeleien während und nach der Vorstellung sind vom Theater Hagen nicht ausdrücklich beabsichtigt, aber auch nicht untersagt.
Anbändeln, das konnte man im Theater freilich immer schon. Sich etwa in der Pause von Verdis »La Traviata« an die allein im Foyer stehende Dame heranpirschen und hauchen: Waren gnädige Frau auch so beeindruckt vom ruhig strömenden Legato der Violetta? Weil das aber immer weniger Menschen taten, schon allein, weil niemand mehr weiß, was ein Legato ist, sind die Marketing-Experten des Theaters Hagen auf diese Dating-Idee verfallen, die angeblich in Saarbrücken bereits erfolgreich getestet wurde.
Doch wie soll man diese Initiative, die zweifellos Schule machen wird, nun werten? Ist sie der kleine Schubs, der nötig ist, um die zögernd am Beckenrand Stehenden in die Wellen der Kunst zu befördern, in denen sie dann glücklich untertauchen? Oder ein weiterer Beweis dafür, dass unserer Gesellschaft das Wissen darum, was Kunst ist, mehr und mehr abhanden kommt? Kunst als das, was sich selbst meint und sich selbst genügt. Nicht Mittel zu einem fremden Zweck sein kann.
Gleich am ersten Tag hat sich schon eine Ina, 45, weiblich, in das Internet-Kontaktformular des Theaters Hagen eingetragen. Fest verabredet zu sein, schreibt sie, würde sie zwingen, den inneren Schweinehund zu überwinden. Ein Burkhard (»allein ins Theater ist schon doof. Vor allem in der Pause«) sowie ein Herr Rammler (»Möchte mit einer Dame oder Herr das Theater kennenlernen«) sind hinzugestoßen. Das deutet darauf hin, dass eine Menge Menschen den erwähnten Schubs nötig haben. Das verspricht einen fetten zukünftigen Zuschauerzugewinn.
Vielleicht aber denkt das Theater Hagen bei seinem Dating-Service gar nicht an die Bilanz, sondern möchte sich von der metaphysischen Ästhetik eines Richard Wagner, wie sie in jenem Diktum von der Sache selbst zum Ausdruck kommt, absetzen – im Sinne eines modernen, auf soziale Performanz abzielenden Kunstverständnisses?
Wie dem auch sei, ein Theater muss rechnen, gerade in Zeiten, wo es von der Politik nicht mehr um seiner selbst willen unterstützt wird. Und so kommt alles darauf auf, ob Ina und die anderen den Musen treu bleiben, sobald sie per Dating-Formular ihren Traumbegleiter gefunden haben. Um dies zu gewährleisten, bedarf es eines weiteren Schrittes. Das Theater Hagen dürfte das Begleiten nicht den Zuschauern überlassen, sondern müsste es selbst in die Hand nehmen. Müsste einen Escort-Service anbieten, der etwa unsere Ina an der Haustür abholt, den glänzenden und neiderweckenden Begleiter gibt – und Ina nie wieder verlässt.
Nur dies würde bedeuten, eine Sache um ihrer selbst willen tun – wenn denn die Sache Kundenbindung heißt.