EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Wir schreiben den 7. Juni 2002. Franz Grille, Redakteur von »Theatermeute«, dem Zentralorgan deutscher Schauspielschaffenden, liegt in seinem Hotelbett in Mülheim an der Ruhr, einer kleinen Stadt im fernen Nordrhein-Westfalen, und schläft. Plötzlich schaltet sich mit einem Klack der hoteleigene Radiowecker ein und dudelt »I Got You Babe« von Sonny & Cher. Grille schreckt hoch, es ist sechs Uhr morgens. Er kann sich nicht erinnern, den Wecker auf diese Uhrzeit gestellt zu haben, quält sich aber dennoch ächzend aus dem Bett. Ihm fällt ein, dass er aus dem großartigen Berlin ins armselige Mülheim gereist ist, weil am Abend in der dortigen Stadthalle eine Jury entscheiden wird, wer den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis erhält, was seiner Zeitschrift einen Artikel wert ist. Aber doch erst am Abend, murrt Grille und wankt ins Bad.
Sehr spät am Abend desselben Tages sitzt Grille mit seinem Reporterblock zu Füßen des Podiums, auf dem die Jury soeben ihre Entscheidung bekannt gibt: Der Mülheimer Dramatikerpreis 2002 geht an Elfriede Jelinek! Gelobt wird ihre Wortmacht und Wortpracht, ihre ostinate Verbalmusik, die semantische Geometrie ihrer Textflächen. Grille schreibt alles auf und fügt noch die Wörter Zitatfäden und Sprechbänder hinzu. Dann fährt er zurück nach Berlin.
Wir schreiben den 7. Juni 2003. Wieder liegt Franz Grille im Mülheimer Hotelbett und schläft. Mit einem Klacken schaltet sich der Radiowecker ein und quäkt »I Got You Babe« von Sonny & Cher. Grille schreckt hoch, es ist sechs Uhr morgens. Er kann sich nicht erinnern, den Wecker auf diese Uhrzeit gestellt zu haben, aber irgendwie kommt ihm die Situation bekannt vor, daher quält er sich murrend aus dem Bett. Spät am Abend des Tages sitzt Grille vor dem Podium und wartet darauf, dass die Jury den Gewinner des diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreises bekannt gibt. Dann steht es fest: Der Preis geht an Elfriede Jelinek! Gelobt wird ihre ostinate Verbalmusik, ihre Wortpracht und Wortmacht, die geometrische Semantik ihrer Textflächen. Grille fühlt sich auf merkwürdige Weise befremdet, eilt in die Restauration der Stadthalle und bestellt sich ein Bier. Er fragt die Bedienung: »Haben Sie manchmal Déjà-Vus?« – »Ich glaube nicht«, entgegnet die Kellnerin zögernd, »aber ich kann ja mal in der Küche nachfragen.« Grille packt ein Grausen, so schnell er kann, reist er zurück nach Berlin.
Es ist der 7. Juni 2004. Wieder schaltet sich mit einem Klacken der Radiowecker ein und dudelt »I Got You Babe«. Wieder fährt Grille aus dem Mülheimer Hotelbett hoch, sein Gesicht spiegelt Entsetzen. Am selben Abend spürt er sein Herz rasen, als der Sprecher der Jury den Gewinner des diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreises bekannt gibt: Elfriede Jelinek. Gelobt wird ihre … Grille flieht.
Es kommt der 7. Juni 2005. Klackend startet der Radiowecker. Unter Qualen fährt Grille hoch. Am Abend geht der Dramatikerpreis an Elfriede Jelinek. 2006: Klack und Entsetzen morgens, Preis an Jelinek abends. 2007: dasselbe. 2008: dito. 2009, 2010, 2011: das Klacken bleibt heftig, doch das Entsetzen stumpft ab zu Gleichgültigkeit. Und jeder Abend bringt Elfriede Jelinek den Mülheimer Murmeltierpreis.
Jetzt sitzt Franz Grille in seiner Redaktion in Berlin und wartet auf den 7. Juni 2012. In seinem Kopf dreht sich eine unendliche Melodie, aber ihm will nicht einfallen, von wem sie ist.