GLOSSE: ULRICH DEUTER
Immer mehr von dem, was früher peinlich gehütet und nur dem Einzelnen und seinem Beichtvater bekannt war, liegt heute auf irgendeiner Theke. Ob Fotos vom letzten Komasaufen auf Facebook, ob Ehezankgezischel per Handy im Großraumwaggon – man schlägt sein Innerstes auf, wie der Exhibitionist den Mantel. Dutzendfach stehen selbstgemachte Kommunions-, Betriebsfestentgleisungs- und Folterfilme, zehntausendfach andererleuts Kreditkartenkontodaten im Internet. Schon gibt es Politiker, die stellen sogar den privaten Hauskaufkredit auf ihre Website. Was immer auf eine Bild-Mailbox gesprochen wird, gleich rutscht es von dort weiter auf Spiegel online.
Das ist nicht aufzuhalten. Seit jüngstem aber erfasst dieser Trend eine Tätigkeit, die jahrhundertlang zum Intimsten zählte, was Menschen tun können: denken. Von Bibelzeiten an separiert sich, wer brüten muss, vom Lärm der Menge, setzt sich auf einen Stein und stützt das Kinn in die Hand. So gehörte es sich und es ging auch nicht anders. Vergrübelte Charaktere besaßen den Anstand zu vermeiden, dass jemand sie bei ihrer peinlichen Tätigkeit sah. Politiker begriffen sich als Männer der Tat, für die Bedenkentragen wie Pinkeln im Sitzen war.
All diese Regeln gelten nicht mehr. Nun hat sogar bei den Mitgliedern des Landtags von NRW, die lange tapfer widerstanden, der Bauchnabel die Form des Marktplatzes angenommen. Zwar sind noch nicht alle Türen der Klos ausgehängt, doch das Nachdenken der Abgeordneten muss ab jetzt in der Öffentlichkeit erfolgen, im sogenannten Raum der Stille. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine fensterlose Besenkammer, in die man sich zum Räsonieren unbemerkt verkriechen könnte. Sondern um einen umgebauten Sitzungssaal von stattlichen 50 Quadratmetern, was bdeutet, darin finden nach dem nordrhein-westfälischen-Versammlungsgesetz 150 Personen Platz. Resp. 144, wenn man die Fläche abzieht, die durch die gelben Polsterbilder des Malers Gotthard Graubner verlorengeht, welche das Schlagen der denkenden Köpfe gegen die Wand abfedern sollen. Drei Viertel des Landtags drängen sich nun also ab sofort hier zur täglichen Masseneinkehr, stehend und vor Platzmangel außerstande, noch die Stirn in Falten zu legen.
Kein Einzelfall – eine Tendenz, dies alles; Post Privacy heißt sie. Und nicht anders als mit dem privaten Denken soll es auch mit dem einsamen Trinken ein Ende haben. Bisher galt, wer soff und dann seine Frau schlug, tat dies hinter zuvor sorgsam verschlossener Tür. Das gebot doch der Anstand. Jetzt aber hat nach dem Vorbild des öffentlichen Raums der Stille in Düsseldorf auch die Stadt Dortmund einen öffentlichen Raum eingerichtet, einen Raum zum Saufen. Hoffnungslose Alkoholiker sollen aus der Anonymität heraus- und in die sogenannten Trinkstuben gebracht werden, deren erste in der Nordstadt eröffnete. Jedem Angehörigen der Zecherszene werden dort von geschulten Mitarbeitern Beratung in Volltrunkenheitsbelangen oder Tipps zur Gewaltausübung unter Alkoholeinfluss geboten. Leider ist über das Fassungsvermögen des Suffsaals nichts bekannt, nur, dass die Graubner’schen Kissenbilder, die im Raum der Stille an der Wand angebracht sind, in Dortmund auf dem Boden liegen und farblich dem Ergebnis von Saufgelagen angepasst sind.
Wie weiter? Denk- und Trinkraum sind ein Pilotprojekt. Landtagspräsident Eckhard Uhlenberg plädiert in der Zeitung »Stille Post« dafür, überall in NRW die Denker- wie die Trinkerszene in öffentliche Räume zu verbringen. Uhlenberg weiß, wovon er spricht. Wandert doch der 64-Jährige jährlich auf dem Jakobsweg, auf dem schon immer das Schweigen so viel galt wie der Rioja, schon immer der Raum der Stille, das Kirchlein, neben der Gaststube stand.