EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Dass nichts so ist, wie es scheint, ist die Brandungswelle, die den Schwimmer aus den klaren Wassern der Kindheit auf die Felsen des Erwachsenwerdens wirft. Das ist hübsch formuliert, aber eben auch wahr.
Später im Leben wird uns die Skepsis gegenüber dem Apparenten zum verlässlichen Begleiter, so lange, bis besonders raffinierte oder besonders dreiste Scheinwirklichkeiten uns dessen Unzuverlässigkeit vor Augen führen. Brandungsfelsen der Enttäuschung prallen uns das Leben lang gegen die Knie, doch indem die Verletzungen sich vermehren, vermindert sich die Überraschung. Die daher kaum die Erregungsoberfläche kräuselt, wenn wir erfahren, dass ein Mensch nicht der ist, der er vorgibt zu sein, zum Beispiel Obama.
Anders im Falle einer allseits geschätzten Persönlichkeit, der uns derzeit erschüttert: Dr. Norbert Lammert ist in Wahrheit ein anderer. Der freundlich-ironische Bundestagspräsident, der kulturinteressierte Abgeordnete aus Bochum, den man immer wieder aufmerksam in Premieren des dortigen Schauspielhauses sitzen sehen konnte, ist ein Phantom, eine potemkinsche Pappfigur, hinter der sich ein gewisser Hans-Jürgen Wilk aus Leverkusen verbirgt. Dies hat ein verhüllter Enthüller jüngst enthüllt. Nicht genug: Auch die Befähigung zum Zweiten Amt im Staate, das Zweite Staatsexamen eben, soll »Lammert« sich erschlichen haben, an einer nicht existierenden Universität.
Warum tut jemand so etwas? Um diese Frage zu beantworten, muss sie gestellt werden, und zwar nach Möglichkeit dem Richtigen. Doch der entzieht sich gegenwärtig der Befragung durch Unauffindbarkeit, nur sein Avatar ist gelegentlich auf der politischen Bühne noch zu sehen.
Stellen wir daher einstweilen die Frage, wer den Betrug bekannt gemacht hat: Es ist ein Whistleblower mit Namen Robert Schmidt, von dem wir wissen, dass er seinerseits ein Pseudonym darstellt. Wer verbirgt sich wiederum dahinter? Ist es der angebliche NRW-Medienstaatssekretär Dr. Marc Jan Eumann, dem seinerseits vorgeworfen wird, in wesentlichen Punkten, seine Person betreffend, falsche Angaben gemacht zu haben, so zum Beispiel über seine Körpergröße und seine Tee-Kaffee-Präferenz?
Ein Fall für die Enthüllungsplattform Wikileaks. Diese Plattform ist schwer zu finden, Google Earth verzeichnet sie weder auf dem Wasser noch auf See, einem Reporter dieser Zeitschrift ist es dennoch gelungen, sie ausfindig zu machen und zu betreten. Nur so viel sei verraten: Er musste hierzu 104 Treppenstufen hoch steigen und die Aussicht von dort war überwältigend. Wikileaks hatte zu den Fällen »Lammert«, »Schmidt« und »Eumann« in der Tat sehr viel zu sagen, ebenso zu den angeblich ähnlich gelagerten Kasus »Wallraff« und »Krefeld«. Doch da in der Redaktion zwischenzeitlich Zweifel aufgekommen sind, ob Wikileaks nicht das schlecht gemachte Plagiat einer ganz anderen Plattform darstellt, müssen wir auf eine Wiedergabe der Wikileak’schen Enthüllungen verzichten.
Wir können aber einigermaßen zuversichtlich der Frage nachgehen, warum Hans-Jürgen Wilk das Pseudonym »Lammert« wählte. Die Erklärung ist höchstwahrscheinlich folgende: Es sollte mit seiner Anspielung auf ein als harmlos geltendes Tier potenziellen Argwohn von vornherein dämpfen, zugleich war es wohl unbewusst eine Anspielung auf das, was sich in Schafspelzen gern verbirgt: Wilk ist das polnische Wort für Wolf.
Wie geht es nun weiter? Wer einmal eine Zwiebel zu schälen versucht hat, weiß, dass er damit besser gar nicht angefangen hätte. Denn am Ende kommen einem vor lauter immer neu darunterliegenden Endgültigkeiten die Tränen. Glauben wir also einfach, dass wir selbst derjenige sind, der wir vorgeben zu sein.