TEXT: MELANIE SUCHY
Die Frau mit den grauen Locken schaut auf das Tuch in ihrer Hand. Es ist zum Knoten gebunden. »Schön«, ruft die Regisseurin leise herüber, »es sieht aus, als untersuchtest du die Erinnerung selbst«. Anne Hirth probt mit drei Schauspielerinnen und einem Musiker »Rost«. So einsilbig sich der Titel auch gibt, so vielfältig sind die Ideen, die zu seinem Thema, der Vergänglichkeit, passen. Es wird keine Show über chemische Prozesse am Metall. »Rost« fragt, wie die Welt, der Mensch und die Dinge zu altem Eisen werden oder gemacht werden. Was bleibt? Warum und wie? Erfindungen, Erkenntnisse, Phantasien, der Satz des Pythagoras, Alice im Wunderland, »Survival of the fittest«.
Den Probenraum im Opernhaus füllen kleine Sessel, Tischchen auf Rollen und eine Wand aus herausschiebbaren Regalen, die später, laut Bühnenbildnerin Alexandra Süßmilch, die Form einer Arche Noah bekommen wird. Ihr gegenüber: eine Badewanne auf geschwungenen Beinchen, als kecke Anspielung auf das, was der Arche bevorsteht. Die vier Darsteller räumen Kartons hin und her, mancher tappt mit verbauter Sicht durch die Welt. »Spiele« heißt eine Box, »Kann weg« eine andere. Schritte klappern, Pappe schrappt über den Boden. Dinge werden entnommen, angefasst, angeschaut, woanders hingelegt. »Brauchst du die noch?« fragt jemand und hält eine Bibel hoch. »Nee« kommt von der Seite. Die Darsteller reden wenig, damit die Klänge ihres Tuns hörbar werden. Die Dinge haben ihre eigene Sprache.
»Ich möchte es gern magisch haben«, wünscht sich Anne Hirth zwischendurch. Dass die Bilder aus ihrem Kopf auf der Bühne Gestalt annehmen und dass aus dem probenhaften Sammelsurium etwas sichtbar und hörbar wird, das nicht so einfach in Worte zu fassen wäre.
Musiker Ralf Haarmann legt Spulen in ein Tonbandgerät, stöpselt Kabel, richtet kleine Mikrofone ein. Währenddessen sitzen die Frauen mit allerlei Kästen und Geräten an Tischen, pinseln, tupfen und schaben an Kleinigkeiten herum. Sortieren. Oder sie schieben die Regale hervor, greifen Kisten und Bücher, stöbern, entdecken, checken, was auch immer. Die Darsteller versenken sich ins Tun und kommen den Dingen ganz nahe. Werden so selbst fast zu Dingen, könnte man denken.
Das Wuppertaler Schauspielhaus traut sich was. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, auch nicht in Wuppertal, Regisseure aus der sogenannten freien Szene zu engagieren; aber dass sie die typisch »freie« Arbeitsweise mitbringen dürfen, ohne Stücktext, nur mit einer Themenidee anzu-fangen und das Stück gemeinschaftlich mit den Darstellern beim Proben zu entwickeln, sei neu hier, berichtet der Dramaturg Oliver Held. Schauspielintendant Christian von Treskow kannte Anne Hirth von seinem Studium an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin, hatte ein Gastspiel von ihr am FFT in Düsseldorf gesehen, das er mochte, und rief sie eines Tages an. Er gab ihr kein Thema vor, nur der dreijährige Obertitel seiner Intendanz hängt da: »Zukunft«. Anne Hirth sagte gern zu, denn auch sie beschäftige sich gerade mit solchen Fragen. Was wird aus der Welt und was wird aus einem Menschen, der altert?
Eine besondere, forschende und wunderliche Sicht auf Zeit scheint ohnehin ein wiederkehrendes Motiv ihrer Kunst zu sein. Geboren 1974, machte Anne Hirth in Bremen Abitur. In den schulischen Theater-AGs fühlte sie sich mit einer Selbstverständlichkeit richtig am Platz, über die sie nie nachdachte. Sie ging zur Uni, machte Assistenzen, absolvierte im Tessin eine Schule für Bewegungstheater, schließlich das Regie-Studium an der angesehenen Ernst-Busch-Hochschule. Doch deren klassische Arbeit mit und an dramatischen Texten und Konflikten wird sie nicht zu ihrem Beruf machen. »Die psychologische Diskussion über Figuren, über Haltungen – in dem Moment, wo es Worte aus dem normalen Leben dafür gibt, fange ich an, mich zu langweilen.«
Als Assistentin bei Tanztheater-Choreografen wie Sasha Waltz und Luc Dunberry in Berlin entdeckt sie eine andere Art des Proben- und Bühnenvorgangs. Auch in den Notizen, die Raimund Hoghe einst über die Proben von Pina Bausch veröffentlichte. »Das hat mich plötzlich entspannt.« Etwas entstehen zu lassen im gemeinsamen Prozess.
Das Planvolle liege ihr nicht, sagt Anne Hirth, also auch nicht die Inszenierung eines bekannten Stücks, bei dem jeder vorher weiß, wer am Ende tot ist. Sie will weder eine durchgängige Geschichte, noch gespielte Charaktere mit Biografien auf die Bühne bringen. Es ist aber nicht einfach, Schauspielern ihr Denken in Rollen abzugewöhnen. Dessen ist sich Anne Hirth bewusst. Denn es gibt ja allerlei Gebote und Verbote der Logik – Psychologik. Wer A tut, kann doch nicht plötzlich D tun. Sanftmütig geht Anne Hirth dagegen an, ohne lange darüber zu diskutieren. Sie gibt kurz formulierte Aufgaben, schaut zu, notiert, sagt anschließend: »Schön war, als dein Kopf im Regal verschwand«. Dann lässt sie es wiederholen. Sie wird das Trappeln, Schieben, Schaben, Tippen in Rhythmen organisieren, später all die ausprobierten, gesammelten szenischen Momente sortieren zu einem Ablauf, der den Zuschauer einlädt zum Mitgehen, Mitspinnen, ohne Belehrung oder knallige Pointen. Auch wenn diese Art von Theater, wie Anne Hirth oft schon erfuhr, die Erwartungen zunächst oder sogar durchgängig irritiert.
Doch es gibt Zuschauer, für die die Abende Anne Hirths viel zu kurz sind. Warum eben nicht dabei zuschauen, wie die Zeit mal auf unan-gestrengte Weise vergeht, ohne Krawumms und alltäglichen Schleuder-gang. Wie Menschen auf unbeschwerte Weise etwas tun, ziellos, aber genau. Fast wie Tänzer. Das macht sie leicht. Das bringt auch die Stücke irgendwie zum Schweben. »Und übrigens kann ich fliegen« heißt auch eines von Anne Hirths Werken, das Körper auf die schiefe Bahn bringt. Sie kullern, knicken, stolpern, kippen und drücken sich aneinander.
Ein Mann fällt mit der Tür ins Haus in »Past is in front of ego«. Er setzt sich auf, schiebt sich auf dem Rücken mit den Füßen voran, steht auf. Diese Vorgänge benennt er in französischen Sätzen, notiert sie, wiederholt sie, wiederholt seine Aktionen, verändert sie, franst sie aus, mampft ein Butterbrot. In »Wait here for further instructions« betreten drei Personen ein Wartezimmer, ziehen ihre Nummern als Tage von einem Abreißkalender, sitzen, stehen, arrangieren Blicke und Beine um, irgendwann kippt eine Frau im Brautkleid aus einem Schrank. Worte und kleine Aktionen ballen sich, dann ist wieder eine Weile Ruhe.
Weder dramatisch, noch post-dramatisch, sondern undramatisch ist dieses Theater. Voller kleiner Ereignisse. Ausstattungsmäßig pflegt es einen etwas altmodischen Look, ohne Fiepsen und Flackern von Videos.
Die wenigen Stücke, die Anne Hirth seit 2005 produziert hat, meist in Berlin, wurden zu zahlreichen Gastspielen in ganz Europa eingeladen und bekamen Preise. Sie nehme sich gern Zeit und sei auch nicht der sprudelnde Typ mit Schubladen voller Ideen, sagt sie. »Ich bin ein Erbengenerationskind, wie einige andere Kollegen in der freien Szene. Ein Riesenluxus, dass ich nicht dauernd produzieren muss«. Sie hat auch einen Nebenjob, bewusst etwas Kunstfernes: im Büro. Abheften. Sie mag das. Bei sich zuhause habe sie eine Schachtel, auf der stehe »Menschen«, erzählt die Künstlerin. Darin sammele sie Namen und Notizen zu Leuten, die ihr aufgefallen sind und mit denen sie vielleicht irgendwann einmal ein Stück machen möchte.
»Rost. Erinnerungen für die Zukunft« von Anne Hirth. Uraufführung am 24.9.2011, weitere Termine im September und Oktober. www.wuppertaler-buehnen.de