Vor tiefschwarzem Hintergrund leuchtet uns ein goldfarbener Kopf entgegen. Sorgsam frisiert, wirkungsvoll inszeniert. Große, schwarze Augen blicken uns bedeutungsvoll an. Beinahe eine mystische Erscheinung, die das Cover des Ausstellungskatalogs »Die Zeit der Staufer« ziert. Was damals, 1977, durchaus Sinn ergab, denn bei der Landesausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart wurde der vergoldete Bronzekopf aus der Stiftskirche Cappenberg als Porträt von Friedrich I. Barbarossa ausgegeben – eine Deutung, die seit dem späten 19. Jahrhundert im Umlauf war. Der Herrscher aus dem Adelsgeschlecht der Staufer (1122–1190), dessen rötlichblonde Haarfarbe ihm den Beinamen »Barbarossa« (»Rotbart«) einbrachte, hat die Phantasie mobilisiert wie kaum eine andere Persönlichkeit des Mittelalters: Seit 1147 Herzog von Schwaben, seit 1152 König, seit 1155 Kaiser, beim Kreuzzug nach Jerusalem im Fluss Göksu (der damals Saleph hieß) in der heutigen Süd-Türkei unter geheimnisvollen Umständen ertrunken, ein Gebieter zudem, dessen Grablege bis heute unbekannt ist – aus solchem Stoff sind Hollywoodfilme gemacht. Welch ein Glück, dass man ausgerechnet von dieser enigmatischen Persönlichkeit eine Bildnisbüste besitzt! Zumal das Porträt als gewollt realistische Wiedergabe des Dargestellten im 12. Jahrhundert noch gar nicht erfunden war.
Leider hatte diese symbolträchtige Zuschreibung einen Schönheitsfehler. Sie stimmt nicht. Mittlerweile herrscht Einigkeit unter den Historikern: Bei dem Kopf, der jetzt im Zentrum einer Barbarossa-Doppelausstellung im Klosterschloss Cappenberg in Selm und im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster steht, handelt es sich um ein Reliquien-Behältnis des heiligen Johannes. Nicht Barbarossa ist also zu sehen, sondern der Evangelist. Dessen kunstvoll ziseliertes Haupt bekrönt einen Teil seiner vermeintlich realen sterblichen Überreste. Die lateinische Inschrift des um 1150/60 datierten Reliquiars lässt keinen Zweifel; dort heißt es klipp und klar (ins Deutsche übertragen): »Was hier bewahrt wird, ist vom Haar des Johannes. Erhöre, heiliger Johannes, die dich durch Gebet bedrängen!«
Dass Barbarossa seinen Kopf verloren hat, muss uns nicht traurig stimmen, denn die große Jubiläumsausstellung, die Petra Marx, Gerd Dethlefs und Flora Tesch kuratiert haben, entschädigt für diesen Verlust durch eine Fülle, beinahe eine Überfülle von Wissens- und Sehenswertem. Nicht nur der Kaiser steht auf Schloss Cappenberg und im Münsteraner Landesmuseum im Blickpunkt. Weitere Hauptrollen spielen die mit der Familie des Staufers verbundenen westfälischen Grafen Gottfried und Otto von Cappenberg. Offenbar keine Kinder von Traurigkeit, jedenfalls nicht in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit: 1121 mischten sie mit bei der Erstürmung und Zerstörung Münsters. Bald bereuten sie die frevlerische Tat. Um Gott gnädig zu stimmen, verschenkten sie ihren weltlichen Besitz, schlossen sich dem Wanderprediger Norbert von Xanten an, wurden selbst Mönche und verwandelten ihre Burg in ein Prämonstratenserstift. Eine Kehrtwende um 180 Grad. Otto agierte 1122 als Taufpate Friedrich Barbarossas. Die an dieses Ereignis erinnernde Taufschale schenkte er 1156 seinem eigenen Kloster – ebenso wie den Cappenberger Kopf. Die silberne Handwaschschale, auf der die damals übliche Ganzkörpertaufe des kleinen Friedrich dargestellt ist, befindet sich heute im Besitz des Kunstgewerbemuseums der Staatlichen Museen zu Berlin. Jetzt markiert sie eines der Highlights der Barbarossa-Schau, die neben dem LWL-Museum in Münster und Schloss Cappenberg einen dritten hochkarätigen Schauplatz vorweisen kann: die romanische Stiftskirche St. Johannes Evangelist in Cappenberg, in deren Hochchor sich die Doppelgrabplatte von Gottfried und Otto von Cappenberg findet.
Mehr Mittelalter war nie
Die Kunst des 12. Jahrhunderts wird in verschwenderischer Fülle an beiden Ausstellungsorten ausgebreitet, besonders in Münster. Zu sehen sind exquisite Beispiele der Buchkunst, Urkunden, Skulpturen, Kreuze, Waffen, prächtig ornamentierte Reliquiare, Schmuck, Münzbilder, Goldschmiede-Arbeiten, Emailtafeln, Elfenbein-Kästchen, Ritterrüstungen und, und, und. Mehr Mittelalter war nie.
Daneben konzentriert sich die Schau auf den Barbarossa-Kult im 19. Jahrhundert. Nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 pushte man den Staufer zur Ikone des nationalen Macht- und Einheitsgedankens. Gar eine religiöse Überhöhung erfährt er in einem Gemälde, das Julius Schnorr von Carolsfeld 1832 schuf. Bei der Darstellung des Leichnams, den sein vom plötzlichen Tod des Kaisers erschüttertes Gefolge aus dem Göksu birgt, orientierte sich der Nazarener an Raffaels »Grablegung Christi«. Bestimmt war das säkulare Andachtsbild voller Pathos für den Festsaal von Schloss Cappenberg; dessen Besitzer, der Freiherr vom Stein, hatte es bei Schnorr von Carolsfeld in Auftrag gegeben.
Die Brüder Grimm und der Dichter Friedrich Rückert sorgten dafür, dass die Kyffhäusersage populär wurde. Ihr zufolge hält der Kaiser, dessen Grabstätte nie gefunden wurde, in einer Höhle des Kyffhäuserbergs (im Harz) einen jahrhundertelangen Winterschlaf. Sein Wiedererwachen, so die Legende, werde das Deutsche Reich retten. Für Kaiser Wilhelm I., Herrscher des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreichs, kam dieses vaterlandstrunkene Märchen wie gerufen. Als »Barbablanca« positionierte sich der weißbärtige Monarch nur allzu bereitwillig in der Ahnenreihe von Barbarossa. 1896 kulminierte der Kult mit der Einweihung des Kyffhäuserdenkmals. Einen unseligen Schlusspunkt setzten die Nationalsozialisten. Mit seinem »Unternehmen Barbarossa«, wie Hitler die Attacke auf Russland betitelte, berief er sich auf den Kaiser, der an drei Kreuzzügen ins Heilige Land teilgenommen hatte. Ein Draufgänger, der mit drakonischer Härte gegen »Ungläubige« vorging.
Mit einem kritischen Kommentar zum deutschen Nationalismus ist die Kölner Künstlerin Johanna Reich im Ausstellungsteil auf Schloss Cappenberg vertreten. In ihrem Video »flags« bemalt sie eine Wand mit wechselnden Nationalflaggen, wobei sich ihre Kleidung der jeweiligen Farbkombination anpasst. Beginnend mit Schwarz-Rot-Gold und stets einen Farbton beibehaltend, entspringen dem gestischen Malvorgang, der an die abstrakte Farbfeldmalerei erinnert, im Verlaufe des Videoloops weitere Flaggen. Barbarossa, so eine mögliche Botschaft von Johanna Reichs Arbeit, hat als ‚Role Model‘ ausgedient. Als Schlüsselfigur des mittelalterlichen Kaisertums dagegen ist seine Bedeutung zeitlos.
»Barbarossa. Die Kunst der Herrschaft«
bis 5. Februar 2023
auf Schloss Cappenberg in Selm
und im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster