TEXT: GUIDO FISCHER
Iván Fischer darf sich zufrieden zurücklehnen. Seit 30 Jahren leitet er das Budapest Festival Orchestra, das das englische Traditionsmagazin Gramophone unter die zehn besten Orchester der Welt gewählt hat. 2012 übernahm er zudem als Chefdirigent das Berliner Konzerthausorchester. Als gefragter Operndirigent hat der gebürtige Ungar auch an den großen Häusern in Wien und Paris alle Hände voll zu tun. Trotzdem ist Fischers Gemütslage äußerst angespannt. Ihn sorgt das politische Klima, das seit Jahren in Ungarn herrscht. »Wie im 19. Jahrhundert ist Ungarn wieder ein Kriegsschauplatz zwischen aufgeklärten Menschen, die sich Europa verbunden fühlen, und nationalistischen Fundamentalisten, die Sündenböcke ausmachen«, so sagte es Fischer in einem Interview.
Einige prominente Musikerkollegen haben darauf mittlerweile reagiert. So sagte Dirigent Christoph von Dohnányi 2011 ein Gastspiel an der Staatsoper ab, nachdem die Leitung des Budapester Theaters Új Szinház an zwei Antisemiten übertragen worden war. Der Pianist András Schiff will vorerst gar nicht mehr in seiner Heimat gastieren. Iván Fischer kann diese Entscheidung nachvollziehen – auch wenn er solch einen Schritt niemals gehen würde. Als bekannter Künstler sieht er sich in der Pflicht, Stellung zu beziehen. So wurde gerade in Budapest eine von ihm komponierte Oper uraufgeführt, mit der er sich anhand der historischen »Affäre von Tiszaeszlár« mit der aktuellen Judenfeindlichkeit auseinandersetzt.
Musikalisch greift Fischer dafür auf Bach-Anleihen und sogar Hiphop-Elemente zurück. Auch der Einfluss von Gustav Mahler, seines favorisierten Komponisten, ist unüberhörbar. Als seine Muttersprache hat Fischer dessen Musik bezeichnet. Da Mahler ebenfalls in Budapest, in seiner dreijährigen Amtszeit als Operndirektor, Spuren hinterließ, gründete Fischer zunächst mit einer Mahler-Enkelin die »Ungarische Mahler-Gesellschaft«. 2005 rief er dann das Budapest Mahler Festival ins Leben, um sich dessen symphonischem Erbe zu widmen.
Bereits im ersten Festival-Jahr sorgte der ehemalige Student von Nikolaus Harnoncourt mit dem Budapest Festival Orchestra (BFO) wie auch auf CD für aufregend moderne Mahler-Perspektiven. Mit der »tragischen« 6. Symphonie machten er und seine Musiker den jüngeren Mahler-Coups von Pierre Boulez und Riccardo Chailly Konkurrenz. Obwohl das Orchester mit seinem Gründungsvater bis dahin schon zahlreiche erstklassige Aufnahmen abgeliefert hatte, etwa Werke von Dvořák, Bartók und Strawinsky, markierte diese Einspielung gewiss den internationalen Durchbruch. Seitdem haben der 62-Jährige und die Hundert des BFO mit drei weiteren CDs ihren Ruf als eines der besten Mahler-Teams bestätigt.
Mit schier unglaublicher Präzision legen sie die Schichten und Zitate in Mahlers Klangdenken frei. Gleichzeitig treffen sie exakt den Ton seines Weltschmerzes, an dem er zeitlebens litt. Besonders gilt das für Mahlers symphonischen Schwanengesang, seine Neunte, von der Zeitzeugen der Uraufführung am 26. Juni 1912 in Wien meinten, er habe hier sein eigenes »Lebe wohl« auskomponiert. Bislang haben Fischer und das BFO ihre neuesten Mahler-Annäherungen zunächst daheim beim Mahler Festival vorgestellt. In diesem Jahr musste es hingegen erstmals ausfallen. So geht man mit der 9. Symphonie auf große Europatournee. Dabei, so verspricht der Mahler-Intimus Iván Fischer, erzähle er »dem Publikum eine Geschichte von Mahler, die er mir erzählt hat«.
Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra, 8. Dezember 2013, Philharmonie Essen; www.philharmonie-essen.de