TEXT: STEFANIE STADEL
Gleich hinter der Glastür beginnen die schmierigen Kreaturen, das Terrain in Besitz zu nehmen. Zunächst noch verhalten: Gleichsam kriechend scheint die erste von ihnen in die hehre Halle vorzudringen. Zwischen dem »Sitzenden Mann mit Gitarre« von Jacques Lipchitz und André Derains eng umschlungenen Paar von 1907 wirkt das knallbunte Gebilde wie ein aus vermatschter Farbpaste erwachsenes Alien. Und das ist nur der Anfang – Fabián Marcaccios Fremdlinge halten den kompletten Lehmbruck-Trakt in Schach. Sie erobern Sockel, besetzen die Wand, wachsen in die Höhe, breiten sich auf dem Fußboden aus.
Und sie nehmen immer öfter menschliche Gestalt an. Soweit man davon noch sprechen kann, angesichts dieser entsetzlich zugerichteten Wesen. Zerfleischt, zerfetzt, zerquetscht, gehäutet und ausgenommen wie der überlebensgroße »Hero«; ein entfernter Verwandter von Georg Baselitz’ frühen Soldatenbildern, den Marcaccio 2009 malte – oder formte. Wie man es nimmt. Denn seine Kunst hängt irgendwo zwischen den Gattungen.
Von Anfang an sucht der 1963 in Argentinien geborene, lange schon in New York lebende Künstler mit seiner Malerei Wege aus dem Rahmen in den Raum. Seit den frühen Neunzigern bereits bringt er das Bildformat zum bersten, lässt Pinselgesten auf Wände wachsen. Wellt, knickt, verdreht riesige Leinwände und gewinnt ihnen auf diese Weise plastische Qualitäten ab. So auch bei der Documenta 11 in Kassel, wo er 2002 einen sich windenden Paravent von 70 Metern Länge installierte.
Solche Verschränkungen der Malerei mit plastischen Elementen ließen sich etwa mit Frank Stellas »Shaped Canvases« der sechziger Jahre in Verbindung bringen – jene »geformten Leinwände«, in denen sich Bild und Format wechselseitig bedingen. Auch die Kunst des deutschen Informel böte Anknüpfungspunkte oder Lucio Fontana mit seinen Schnittbildern.
Soweit der Blick zurück. Was Marcaccios Kunst aber ganz gegenwärtig macht, ist, abgesehen von Themen und Motiven, der Zugriff auf neueste Mittel und Methoden. Das traditionelle Medium der Malerei verschmilzt in seinen Werken mit computergenerierten Bildern, fotochemischen Fixierungen, digitalen Verfremdungen. Die Ergebnisse stehen ziemlich allein da, sind schwer definierbar.
Vielleicht greift Marcaccio deshalb gern nach eigenen Wortschöpfungen. Zentral in seinem einfallsreichen Vokabular ist der Begriff des »Paintant«, in dem sich »painting« und »mutant« vereinen. »Mutierte Malerei«, die eben beides ist – Skulptur und Bild. Dabei mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung tendiert.
Beim gut zwei Meter hohen »Hero Paintant«, genau wie bei den übrigen Werken der Schau im Lehmbruck Museum, kommt auf jeden Fall stärker die plastische Seite zum Tragen. Doch selbst für diese Stücke, »Structural Canvas Paintants« genannt, benutzt Marcaccio Leinwand, bedruckt sie zum Teil mit Bildern aus dem Computer, schneidet alles per Schnittmuster 3-D gerecht zu, um die Einzelteile dann auf ein Gerüst aus Alu-miniumgitter zu ziehen.
Der Künstler vergleicht es mit der Arbeit eines Schneiders, der ja auch Textiles einem Körper anpasst. Allerdings sind Marcaccios Körper hohl, bauen nicht wie die eines Bildhauers auf Volumen und Masse. Vielmehr auf Bildern und auf der Konstruktion von Perspektive; Eigenschaften, die sie mit der Malerei gemeinsam haben. Ebenso wie jene alles verschmierenden Schlieren und Klumpen aus pastoser Farbmaterie und buntem Silikon – übersetzen sie doch die Arbeit des Pinsels ins Plastische.
Eigentlich sollten Marcaccios Gattungshybride ganz woanders im Duisburger Museum einziehen; die Klassiker in Frieden lassen. Baumängel und die kurzfristige Schließung der großen Glashalle sind Schuld daran, dass sie sich nun in Gesellschaft von Derain und Lipchitz, Klinger, Ernst, Belling, Maillol wieder finden.
Und natürlich auch mit Wilhelm Lehmbruck in Kontakt treten. Wie jener Kindersoldat, der ehrfürchtig vor die »Kniende« tritt. Es sieht fast so aus, als wolle er seine Waffen vor ihr strecken, ihr feierlich die Kalaschnikow überreichen. Dabei könnte das Paar kaum unterschiedlicher sein: Hier die anmutige, ideale, so gut wie unbekleidete Frauenfigur. Dort der zerfledderte Junge in etwas, das einer Rüstung ähnelt, aber kaum mehr Schutz bieten kann. Überall schaut man hindurch – auf das grüne T-Shirt mit der Comic-Ente. Und noch tiefer: Ist es Haut oder rohes Fleisch, das da zum Vorschein kommt? Sind es Prothesen oder bloßliegende Knochen?
Auch an anderen Stellen des Rundgangs profitiert Marcaccio vom gewagten Miteinander im Lehmbruck-Trakt. Für sich gesehen, hätten die Grusel-Geschöpfe des Argentiniers es sicher schwerer gehabt. Hätten wohl auch dem nicht fern liegenden Vorwurf der bloßen Effekthascherei nicht so leicht begegnen können.
Bereichernd wirkt das Nebeneinander vor allem mit Blick auf einen überlebensgroßen CNN-Reporter, der direkt neben Lehmbrucks 1915 als Mahnmal gegen Krieg und Gewalt geschaffenen »Gestürztem« seine ramponierten Körperteile von sich streckt.
Der Arm ist noch in Form und hält wacker das Mikro in die Höhe. Während der Rest sich auflöst in Knochen und Chaos, Haut und Horror. Gar nicht fern liegt da ein berühmtes Schlachtfeld aus dem Bestand des Lehmbruck Museums: Dem zerfetzten CNN-Mann zu Füßen leiden und sterben fünf Soldaten, von Duhan Hansons in Polyesterharz und Fiberglas gebaut und 1967 im »Vietnam Piece« auf einem schmutzigen Zelttuch arrangiert.
Das alles zusammen gesehen macht noch einmal sehr anschaulich, worum es in Marcaccios bluttriefenden Bildern eigentlich geht. Während Lehmbruck die verzweifelte Haltung des »Gestürzten« als Mahnung reichte, wählt Hanson 60 Jahre später ein beinahe dokumentarisch anmutendes Bild, um dem Gräuel Ausdruck zu verleihen. Bei Marcaccio sind, wiederum vier Jahrzehnte später, alle geschmacklichen Grenzen gefallen. Doch zielt der Künstler hier sicher nicht bloß aufs Spektakel ab. Vielmehr ist ihm wohl daran gelegen, das Geschehen nach heute geläufiger Manier aufzubereiten: Der Künstler kippt in den Ausstellungsraum, was die irrwitzige Medienmaschinerie zusammengequirlt hat. Schock und Effekt sind nicht Selbstzweck, sondern überspitztes Zitat.
Mit diesen »Structural Canvas Paintings« der Duisburger Ausstellung dürfte seine plastische Auslegung des Tafelbildes den Höhepunkt erreicht haben. Viel mehr geht nicht. Vielleicht sucht Marcaccio deshalb in seinen allerneusten Werken noch einmal den Weg zurück an die Wand.
Eigens für das Krefelder Haus Esters hat er letztes Jahr einen Zyklus von zwölf monströsen Tableaus geschaffen. Natürlich keine tatsächlichen Tafelbilder, eher Reliefs, die bis zu 20 Zentimeter weit in den Raum ragen. Als Bildträger dient ein Netz aus groben Hanf- und Kletterseilen, das der Maler mit viel dicker Farbe bearbeitet. Sogar von hinten drückt sich die Masse durch die Maschen. Dicht vor dem Bild fallen denn auch vor allem das Netz und die Farbe ins Auge, erst aus der Distanz tritt das Gegenständliche deutlicher hervor.
Marcaccio tränkt das Flechtwerk mit allerlei gesellschaftspolitischen Inhalten. »Some USA Stories« werden da erzählt. Nicht irgendwelche, sondern besonders finstere, blutige, brutale Geschichten aus Amerika. Sie handeln von Krieg, Mord, Massaker, verzichten dabei aber auf das aus Duisburg bekannte Splatter-Spektakel. Fleischfetzen, Eingeweide, zerbrochene Knochen spielen hier nur am Rande eine Rolle. Der Maler gibt sich zurückhaltender in diesen sogenannten »Rope Paintings«. Man könnte sie als zeitgenössische Historienbilder beschreiben, in denen weniger die drastischen Fakten als vielmehr die geheimnisvollen Hintergründe interessieren.
In »Ruby Ridge« etwa reicht das Bild eines einfachen Fensters, um jenes Blutbad anzudeuten, das sich 1992 in Idahos Wäldern ereignete. Als Scharfschützen des FBI Sohn und Frau des Separatisten Randy Weaver töteten. Einzig das Loch in der Scheibe zeugt hier von dem Angriff.
Ähnlich im »Jim Jones« genannten Gemälde. Da setzt Marcaccio nicht den Massenselbstmord in Szene, bei dem 1978 über 900 Menschen starben. Stattdessen versucht er in seinem schleierhaften Porträt, den Mann zu fassen, der das alles veranlasste: Sektenführer Jim Jones als eine Mischung aus falschem Papst und Zombie in weißem Ornat und pinkfarbener Stola. Bei genauem Hinschauen könnte man im Kopf einen Totenschädel erkennen.
Lauter schlimme, wahre Geschichten. Man hätte das Grauen gern auf Distanz gehalten. Doch für das letzte Bild verlässt Marcaccio die USA und macht sich an einer Wand draußen auf der Veranda der Mies van der Rohe-Villa zu schaffen. Vor die reale Backsteinmauer hängt der Künstler eine gemalte, die offenbar einiges mitgemacht hat. Zerborsten ist sie und von Kugeln durchlöchert – wie nach eine Exekution. Der Horror ist überall zu Hause.
Fabián Marcaccio: The Strucural Canvas Paintants, bis 19. August 2012. Lehmbruck Museum, Duisburg, Tel.: 0203 / 283 3294. www.lehmbruckmuseum.de
Fabián Marcaccio: Some USA Stories, bis 19. August 2012. Museum Haus Esters, Krefeld. Tel.: 02151 / 975580. www.kunstmuseenkrefeld.de