In diesen Tagen ist es merkwürdig leer in Andreas Gurskys Atelier. Nicht ein Foto hängt an den hohen, glattverputzten, weißen Wänden oder liegt zur Begutachtung auf dem langen Tisch. Nur ein kleines Modell der Museen Haus Esters und Haus Lange steht im Eingangsbereich. In den beiden ehemaligen Krefelder Wohnhäusern zeigt Gursky zurzeit Werke aus den vergangenen 28 Jahren. Eigentlich müssten in seinem Atelier viele Fotos zu sehen sein. Vor seiner gewaltigen Retrospektive im Münchner Haus der Kunst im Frühjahr 2007 sah es hier ganz anders aus.
Das fünf Meter breite Foto eines Formel-1-Boxenstopps war gerade fertig geworden und besetzte eine Wand des Ateliers. Auf der gegenüberliegenden Wand hing die Rennstrecke von Bahrain, und die druckfrischen Fotos der Scheichs in der Kuwaiter Börse in ihren Dishdash-Gewändern lagen noch auf dem Tisch. In jenen Tagen war Gursky ein wenig angespannt. Die ansonsten ruhig blickenden grünbraunen Augen jagten nervös hin und her. Für die mächtige Schau musste viel organisiert werden, zudem belagerten Pressevertreter den Künstler, um sich vor der ersten Mega-Ausstellung in Deutschland noch schnell ein paar Originaltöne ins Mikrofon sprechen zu lassen. Schließlich gehörte Gursky schon damals zu den berühmtesten internationalen Künstlern – nicht nur, weil Sammler sich um seine Werke reißen und bereit sind, sechs-, manchmal sogar siebenstellige Summen für ein Foto auszugeben, sondern auch, weil die Szene Künstler besonders liebt, die schon mal im New Yorker Museum of Modern Art ausgestellt haben, was als eine Art Künstler-Ritterschlag gilt.
Die Parameter von damals gelten noch, und vielleicht ist Gursky seit seiner Münchner Ausstellung sogar noch ein bisschen bekannter geworden, jetzt interessieren sich sogar Boulevardblätter für das Privatleben des attraktiven 53-Jährigen. Die Krefelder Ausstellung scheint ihn allerdings nicht nervös zu machen. Gursky zeigt ruhig auf das Museums-Modell und beginnt, die Konzeption seiner Ausstellung zu erklären, aber irgendwie macht das für ihn keinen rechten Sinn, schließlich ist es von seinem Atelier in Düsseldorf bis in die Krefelder Wilhelmshofallee nur ein Katzensprung. Und so steigen wir ins Auto, um die Schau vor Ort anzuschauen. Unterwegs erzählt Gursky, sein Kalender verzeichne allein für das Jahr 2008 fast 30 Ausstellungen, darunter welche im arabischen Emirat Sharjah, in Moskau, Los Angeles, Istanbul, in Seoul, Kiew und New York. Nach Australien will er in diesem Jahr noch, aber dann, sagt er, solle es etwas ruhiger werden. Eine Ausstellung in seiner Nachbarschaft, wie die in Krefeld, komme ihm da gelegen.
In Haus Esters und Haus Lange auszustellen, sei für ihn aber etwas ganz Besonderes. Schließlich habe er im Haus Lange vor 20 Jahren seine erste Museumsschau gehabt. Damals, erinnert er sich, habe er noch nicht einmal genug Fotos gehabt, um die Räume zu füllen. Mittlerweile kann Gursky auf ein umfangreiches Werk blicken, und da er die Formate seiner Fotos seit den 90er-Jahren um ein Vielfaches vergrößert hat, stellt sich die Frage: Würden die beiden Bauhaus-Museen mit Gurskys Fotos nicht aus allen Nähten platzen? Würde es nicht furchtbar sein, 28 Gursky-Foto-Jahre, seine riesenhaften Konzertaufnahmen, Rheinauen, Kuhfarmen, Börsenbilder, Produktionsstätten und Tanzformationen wie Heringe in der Dose eng nebeneinander gepresst zu sehen?
Doch Gursky beruhigt. Er habe in Krefeld eine Idee realisieren können, die er sich schon für seine Münchner Ausstellung überlegt, dann aber verworfen habe. Seine zwischen zwei und vier Meter hohen und ebenso breiten Bilder, die seit den 90ern entstanden sind, habe er dafür in ein kleineres Format übertragen. Das Konzert der Toten Hosen, die Börse von Tokio, der Flughafen von Düsseldorf, der 99-Cent-Supermarkt müssen nun mit Maßen von 40 bis 60 Zentimetern vorlieb nehmen. Aber die hohen Räume und die kalte Anmutung der Naziarchitektur des Hauses der Kunst hätten solche kleinen Bilder verschluckt, so habe er dort doch lieber die XXL-Formate ausgestellt. In München wollte er kein Risiko eingehen.
In Krefeld ist er nun mutig. Kann er auch sein, denn die beiden Häuser zu bespielen, die Mies van der Rohe zwischen 1928 und 1930 gebaut hat, unterliegt anderen Kriterien. Haus Esters / Haus Lange gelten seit Jahrzehnten als Laboratorium für aktuelle, noch ungesicherte Tendenzen und als Experimentierfeld für bereits arrivierte, zeitgenössische Künstler. Robert Longo, Kiki Smith, Bruce Naumann, Anton Henning, Eric Fischl, Gregory Crewdson haben hier im Wettstreit mit der herausragenden Architektur eindrucksvolle Ausstellungen abgeliefert.
Andreas Gurskys Schau steht den Vorgängern in nichts nach. Doch spielt er nicht mit
der Architektur, sondern benutzt die Häuser als Schatzkiste, in der er seine Pretiosen, sein fotografisches Lebenswerk, fein säuberlich geordnet, in Wengenholz gerahmt und in der Größe jetzt reduziert präsentieren kann. Mit dieser Ausstellung zieht er eine Art Zwischenbilanz. Würde Gursky sein Handwerk morgen an den Nagel hängen, diese 130 Werke wären sein künstlerisches Vermächtnis.
Gursky dokumentiert in Krefeld seine ersten Schritte als Künstler mit dem Foto eines Gasherds mit drei brennenden Flammen, einem Bild, das er hier neben anderen frühen Fotos erstmals zeigt. Der Herd stand in der Küche seiner Düsseldorfer Wohngemeinschaft. Damals, 1980, hatte er sich entschlossen, sein Studium bei Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie aufzunehmen. Die Bechers waren für Gurskys Weg entscheidend. Direkte Einflüsse der berühmten Lehrer sind beispielsweise in der Serie »Pförtner«, für die er 1982 die Empfangshallen großer Firmen fotografierte, zu sehen. Den Bechers folgen hieß: Ein Thema zu wählen und durch alle erdenklichen Motive zu deklinieren, es aus der Distanz und mit zentralperspektivischem Blick und in Schwarzweiß zu fotografieren.
Auch andere Becher-Schüler wie Axel Hütte, Thomas Ruff, Candida Höfer, Thomas Struth und Tata Ronkholz arbeiteten am Anfang ihres Studiums ebenso. Schnell schien Gursky jedoch die Lehre der Bechers zu fixiert. Er ging auf die Straße und fotografierte spontan, was wahrscheinlich in den Augen der Bechers ein Sakrileg war. Dabei entstanden farbige Einzelbilder, Fotos von Menschen am Flughafen, beim Fußballspiel, beim Spaziergang,
Aufnahmen, die Gursky noch immer schätzt. Was die Technik angeht, sagt Gursky, habe er bei den Bechers wenig gelernt. Sie standen auf dem Standpunkt, dass man sich sein Handwerk schon aneigne, wenn man es brauche.
Während sich viele Becher-Schüler untereinander das eine oder andere erklärten, konnte Gursky von seinem Vater lernen. Willy Gursky unterhielt nach seiner Flucht aus Leipzig, wo der Sohn 1955 geboren wurde, ein Atelier für Werbefotografie in Essen. Werbefotografie, das war für Andreas Gurskys Generation allerdings ein rotes Tuch. Daher entschied er sich, künstlerische Fotografie an der Folkwang Schule bei Otto Steinert und Michael Schmidt zu studieren. Als Fotojournalist, so Gurskys Vorstellung, wollte er sein Geld mit Reportagen für Hochglanzmagazine verdienen. Doch daraus wurde nichts. Auch war es nach dem Studium an der Düsseldorfer Akademie nicht einfach, als Künstler Fuß zu fassen. Er tingelte eine Weile herum, fotografierte Hochzeiten und half seinem Vater. »Die Zeit bis zur ersten Ausstellung war sehr schwierig«, erinnert sich Gursky. Nicht nur, dass es kaum Einnahmen gab, auch die Anerkennung fehlte. Doch mit der Krefelder Schau wurde es leichter. Erste Galerien interessierten sich für die Arbeiten des damals bereits 35-Jährigen. Der Münchner Galerist Rüdiger Schöttle richtete ihm eine Ausstellung aus, dann zeigte er bei Victoria Miro in London. Heute arbeitet Gursky mit der Berliner/Londoner Galerie Sprüth/Magers und mit Matthew Marks in New York zusammen.
Entscheidend für die Entwicklung der »neuen« Fotografie war das Jahr 1991. Damals führten Gurskys ehemalige Kommilitonen Axel Hütte und Thomas Ruff das Großformat ein. Gursky war anfangs skeptisch. Er kämpfte noch eine Weile für das kleine Format, doch dann sah auch er das Epochemachende der Idee seiner Kommilitonen und folgte ihr. Damit begann der ungebremste Siegeszug der deutschen Fotografie. Gursky suchte jetzt nach Motiven, die gemeinschaftliche Erfahrungen symbolisieren. Die fand er nicht mehr unterwegs; zumeist gaben ihm Fotos in Zeitungen und Magazinen einen Anstoß. So kam Gursky auf die Idee, Boxkämpfe, Formel-1-Rennen, Börsen, Farmen oder Produktionshallen riesengroß festzuhalten. Für seine Fotos scheut er keinen Aufwand: Er fliegt mit Helikoptern, steigt in Baukräne, steht an Rennstreckenzäunen, kämpft mit Behörden. Sein populärstes Foto ist gewiss das eines Konzerts der Sängerin Madonna. Hierfür fotografierte er verschiedene Szenen der Bühnenshow und führte sie später am Computer zu einer einzigen Aufnahme zusammen.
Die Komposition seiner Bilder entsteht am Bildschirm. Mit der Methode der digitalen Bildbearbeitung arbeitet Gursky seit Anfang der 90er-Jahre. Seine Bilder könnte man als Choreografien bezeichnen, denn Figuren und Gegenstände auf ihnen stellen sich so zueinander, wie Gursky sie positioniert; und sie scheinen sich im Auge des Betrachters zu bewegen, denn Gursky komponiert seine Werke multiperspektivisch. Das heißt, es gibt nicht einen zentralen Punkt, auf den sich das Geschehen bezieht, sondern mehrere. Was zur Folge hat, dass der Blick von einem Ereignis im Bild zum nächsten eilt. Eine Eigenschaft, die für Gurskys Werke von zentraler Bedeutung ist.
Wenn der Künstler jetzt in Krefeld seine Großformate als Kleinformate präsentiert, geht diese Qualität verloren. Erstaunlicherweise bü-ßen die Fotos aber nichts von ihrer Bildqualität ein. Die Details sind scharf ausgeführt, brillant ist ihre Farbigkeit. Dank der fabelhaften Technik behaupten sie sich selbstbewusst – sogar, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft eines der wenigen gewohnt riesigen Fotos hängt. Das ist Gursky auch wichtig, denn nichts ist für einen Künstler kritischer, als wenn ein Werk eigenständigen Charakter verliert.
Als wir wieder im Auto auf dem Heimweg sind, verrät Gursky ein wenig über seine eigene Sicht auf die Welt. Manchmal fühle er sich, als ob er mit den Augen eines Kindes aus dem Weltall auf die Erde blicke. Die Stimmung ist etwas elegisch. Es dämmert und die Landschaft am Rhein zeigt sich von ihrer schönsten Herbstseite. Im Atelier holt Gurksy die Wirklichkeit wieder ein. Inzwischen hat sich der vordere Raum gefüllt. Kleine Fotos stehen in Folie verpackt auf dem Boden. Sie sind für den Transport zu seiner Ausstellung nach Goslar vorbereitet worden. Dort wurde Gursky inzwischen mit dem renommierten Kaiserring ausgezeichnet, einem Preis, den er gern entgegen nahm – schließlich wurden auch seine Lehrer Bernd und Hilla Becher mit ihm geehrt. //
Andreas Gursky, Werke 1980 bis 2008; bis 25. Januar 2009; www.krefeld.de/kunstmuseen