Fast wie ein Edelmann aus alter Zeit thront Pascal Dusapin in dem rot gepolsterten Louis XV-Fauteuil. Von dort beobachtet er, wie der englische Pianist Ian Pace langsam ins Schwitzen gerät. Bei seinen »7 études« für Klavier solo. »You must be crazy«, animiert Dusapin den Schwerstarbeiter bei der zweiten Etüde. Was sich Pace nicht zweimal sagen lässt. Als ob er nur auf diesen Tipp gewartet hätte, wirft er sich furchtlos in den pianistischen Horrortrip mit all den irren Trillern und der zügellos eingepflanzten Polymetrik.
2002 entstand dieser Probenmitschnitt aus dem Pariser Théâtre des Bouffes du Nord. Die ein Jahr später veröffentlichte DVD dokumentiert nicht nur Dusapins Rückkehr ans Klavier, dem er kompositorisch zwanzig Jahre lang aus dem Weg gegangen war. Beigegeben ist der Aufnahme eine aufwendig aufgemachte CD-Box, die im Zeitalter des abnehmenden Tonträger- Konsums allein deswegen schon ein Wagnis bedeutet, weil sich lebende Komponisten nicht unbedingt zum Bestseller eignen. Aber Pascal Dusapin ist eben nicht einer von vielen aus der bunten French Composer- Connection.
In seiner Heimat gilt der 52-Jährige als prominenteste Leitfigur jener Generation, die sich aus dem Schatten des Avantgarde-Patriarchen Pierre Boulez befreien konnte. Selbst in den deutschen Feuilletons hat es Dusapin auf die ersten Seiten geschafft, als 2006 seine Version des Faust-Stoffes an der Berliner Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt wurde. Dabei ist Dusapin weder ein wortgewaltiger Lautsprecher, noch ein glamouröser Polystilist. Das Dozieren über seine Werke überlässt der Mann mit der markanten Mähne anderen, lieber versenkt er sich mit stets durchdringend nüchternem Blick und hoch konzentriert ins Partiturstudium. Auf seinem Notenpapier geht es eher konservativ zu. Das postmoderne Jonglieren etwa mit Jazz-Fetzen, an dem Philippe Hurel und Bruno Mantovani ihren Spaß haben, gehört genauso wenig zu Dusapins Vorlieben wie die florierende Beschäftigung mit Computern und Synthesizern. Obwohl er sich mal während eines Praktikums am Pariser IRCAM-Institut ausführlich mit den High-Tech-Sound-Apparaturen vertraut gemacht hat, ist seine Skepsis geblieben. »Der Computer verkörpert möglicherweise den Akademismus und die Bildungsfeindlichkeit der modernen Zeit«, so Dusapin bereits 1986 in einem seiner seltenen Interviews. Statt sich von der künstlerischen Intelligenz in Beschlag nehmen und einengen zu lassen, hält er sich vorrangig an die naturbelassene Klang-Materie.
Dusapin versteht das Komponieren stets als ein Spiel, bei dem die Ideen sich nach allen Seiten hin ausbreiten können. Wie in den aufführungspraktisch hundsgemein konfliktreichen Kammermusikminiaturen, die er Ende der 1980er Jahre komponierte. Oder wie in den aufreibenden Solo-Konzerten und den zahllosen Vokalwerken mit ihren weit aufgefächerten Stimmungen, von zerrütteter Beengtheit bis zum unmittelbaren Zauber.
Angesichts dieser inzwischen auf ein unfangreiches Schaffen angewachsenen Offenheit, verwundert es nicht, dass Dusapin ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allen Musikideologien und Schulen hegt. Weshalb es ihn auch nie lange in jenen verschworenen Zirkeln hielt, in denen man immer noch vor den leicht angestaubten Gesetzestafeln der Neuen Musik niederkniete. Der am 29. Mai 1955 in Nancy geborene Dusapin bildete sich lieber autodidaktisch weiter, als sich von einem Lehrer schleifen zu lassen. Während seines Studiums der Musikwissenschaft, der Bildenden Kunst und der Kunstgeschichte an der Pariser Sorbonne wurde er immerhin von dem in Deutschland durch eine Schumann-Biografie bekannt gewordenen André Boucourechliev gefördert. Boucourechliev verschaffte ihm 1976 als Gasthörer Zutritt in die Klasse von Olivier Messiaen am Conservatoire de Paris, wofür Dusapin sich ein Jahr später mit der Widmung seines Opus 1 »Souvenir du silence« bedankte. Zu diesem Zeitpunkt stand er schon unter dem Einfluss zweier Klangraum-Pioniere. Edgard Varèse sei sein Großvater, Iannis Xenakis sein Vater, ließ Dusapin wissen, zumindest »auf einer spirituellen Ebene«.
Bei aller Bewunderung für Xenakis und sein zwischen Rationalität und Subjektivität eingehängtes Musikdenken, mit dem er Klangmassen hochdramatisch archaisch organisierte, traf doch schon früh auf Dusapin das zu, was der durchaus geistesverwandte Kollege Wolfgang Rihm einmal über sich sagte: »Ich bin ein Komponist, der mit Nervenenden komponiert und nicht nur mit dem Bleistift.«
Wie nah sich Dusapin und Rihm sind, zeigt sich nicht nur in der gemeinsamen Ablehnung von Dogmen. Beide verarbeiten sie mit einem geradezu gargantuanischem Appetit die Literaturgeschichte, um sich am ewigen Kreislauf des scheiternden Menschen abzuarbeiten. In ihren Opern trifft man auf den Antiken-Steinmetz Heiner Müller. Und selbst den von Rihm regelmäßig befragten Hölderlin nahm Dusapin neben Dante, Shakespeare, Ingmar Bergman und Beckett in seine Textcollage für die Gelehrtengeschichte »Faustus, The Last Night« auf. Den Konfliktherd zwischen Faustus und Mephisto feuerte Dusapin hierbei mit exzessiven Klangfarben, aber auch mit stelenartig verunsichernden Gebilden wirkungsvoll an. Wobei die komplex-rigorosen, ständig anschwellenden Figurationen und plötzlich dazwischenfahrenden Momente komprimierter Einkehr für die Sänger nun wirklich kein Zuckerschlecken sind. Auch davon kann man sich nun live überzeugen. Denn innerhalb der »Artist in Residence«-Reihe, die die Essener Philharmonie jetzt eine ganze Saison lang auf Pascal Dusapin zugeschnitten hat, wird die in Zusammenarbeit mit der Oper Lyon entstandene Uraufführungsproduktion in konzertanter Form gastieren. //
Am 3.10. spielt das Scharoun Ensemble Werke von Ravel, Dusapin, Caplet, Debussy, am 26.10. das Orchestre de Montpellier Werke von Franck, Dusapin, Roussel. www.philharmonie-essen.de