// Dieser »Faust« beginnt in der Studierstube. Passender Ort für den Regisseur Laurent Chétouane. Seinem Theater kann man beim Denken zuschauen. Aber gerade deshalb ist es ihm – und seiner viereinhalb Stunden langen Aufführung in der Halle Kalk des Schauspiels Köln – um Leichtigkeit zu tun, um lichte Höhe. »Von allem Wissensqualm entladen, / In deinem Tau gesund mich baden!«, ist sein und des Dr. Heinrich Faust’ Wunsch und Wille.
Wer die akribischen Text-Analysen des 1973 in Frankreich geborenen Chétouane kennt, weiß, dass ihn kein lukullisches Erzähltheater erwartet. Vielmehr eine eigenwillige Strichfassung und offene Form. Das subjektive Konzentrat eines Stücks. Von ihrer Konzeption her hat diese ebenso strapaziöse wie sinnstiftende Goethe-Recherche ein Ziel: das Naturphilosophische, Mythologische und Morphologische von Goethes Welt-Drama mit der abenteuerlichen Fabel – Teufelspakt, Abrakadabra, Gretchen-Tragödie – zu versöhnen. Es funktioniert überraschend gut. Und zwar ausgerechnet mit den Mitteln der Abstraktion. Lineare Erzählfäden sind aufgelöst; Spottlust verhindert andachtsvollen »Faust«-Kult; das Dramen-Personal lässt sich nicht exakt zuordnen. Die sechs Darsteller (plus zwei Tänzer) spielen sich gegenseitig in virtuos choreografierten Wechseln und im räumlichen Ausschreiten der kahlen Bühne Figuren und Verse von Faust und Mephisto, Gretchen und Marthe zu.
So entsteht ein ständiges Fließen. Ein Monument gerät in Bewegung: »Faust« als unendliches Gespräch. Als Expedition, mal heiterer Spaziergang, harscher Gewaltmarsch, Irrlauf. Wesentliches Merkmal der Inszenierung ist die Behutsamkeit, mit der Goethes Sprache, die eine kostbar feine Struktur bekommt, verkostet, überlegt und überlegen dargeboten wird. Chétouane begreift »Faust« nicht als dramatisches Projekt, sondern als lyrischen Gesang.
Obgleich ohne psychologische Kennung, gewinnt jeder der vorzüglichen Schauspieler Charakter und Individualität. In sanfter, gelegentlich heftigerer Körperkommunikation berühren und bestaunen sie sich wie Wunderwesen der Natur. Jan-Peter Kampwirth bewahrt für sich den Bezirk des Abschätzigen und Schroffen. Christoph Luser bringt eine weiche, kluge, leis’ gestimmte Melodie ein. Carlo Ljubek bedient sich schon mal eines ironisch-neckenden Tonfalls. Im bewusst überdehnten, aber elastischen Tempo, das sich manchmal allerdings an kryptische eurythmische Etüden verschwendet, gelingen schöne, gewitzte, das Stück neu beleuchtende Momente.
Da wird das Erscheinen des Teufels zum lüstern ekstatischen Tumult der weiblichen Faust-Figuren Eve Kolb, Julia Wieninger, Patrycia Ziolkowska, während dieselben drei Damen in Gretchens Kammer Hand in Hand einander ablösen. Zumal Ziolkowska darf sich innig und fiebernd in Gretchen einfühlen, ihrer Verstörung Ausdruck geben und wie in einem liturgischen Gebet nach »Luft und Licht« rufen. Auerbachs Keller stellt sich beiläufig dar als Ort böser Spielkinder und verwandelt sich unversehens in die Hexenküche, wo die Höllenbrut sich eine ausgiebige Pantomime gönnt. Die Walpurgisnacht wird abgetan mit einem knappen naturkundlichen Scherenschnitt-Video. Die Kerkerszene am Ende, gebannt in einen Kreidekreis, schickt das Ensemble in kalten Taumel und klares Delirium.
Chétouanes »Faust I« ist konsequente Fortsetzung seines Weimarer »Faust II« vom Frühjahr, hat sich jedoch positiv weiter entwickelt. Das trotzig Sperrige und Skizzenhafte erscheint nun ausgeschriebener, das Essayistische löst sich deutlich konkreter auf, der Humor bleibt ein verbindendes Element. Chétouane belässt es nicht bei der Demontage, sondern schraubt das Zerlegte auch wieder zusammen. Goethes Wort aus den Sonetten, »Wer Großes will, muss sich zusammenraffen«, trifft den Kern der Sache // AWI