Michael Endes 1973 erschienener Roman »Momo« ist ein Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Dennoch ist es nicht so sehr ein Kinderstück geworden, das Giuseppe Spota nun als erste eigene Choreographie am Musiktheater im Revier zeigt. Der Leiter der MiR Dance Company greift einzelne Episoden und Motive der Geschichte auf und interpretiert sie neu in Bezug auf aktuelle Ereignisse. Eine durchgehende Handlung erzählt er aber nicht. Das setzt beim Publikum einiges an Kenntnissen des Romans und eine große Offenheit des Sehens voraus.
Momo – eine Frage der Haltung
Momo ist in Spotas Sicht keine Person, sondern eine Haltung, eine Idee, die jeder, der sich bewusst dafür entscheidet, annehmen kann. Die gelbe Regenjacke, die an Greta Thunberg erinnern mag, steht für diese Idee. Marie-Louise Hertog ist die erste, die diese Jacke trägt, aber dann verschwindet sie einfach und die Jacke tanzt als leere Hülle weiter auf der Suche nach dem nächsten Menschen, der sie ausfüllen kann. Das ist eines der treffendsten Bilder dieses Abends.
Spota, der auch sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ist, hat die Bühne des kleinen Hauses in Gelsenkirchen bis an die Brandmauer geöffnet. Aus dem Monobloc, jenem weißen Plastikgartenstuhl, der oft, manchmal allzu leichtfertig, von Austatter*innen herangezogen wird, hat Spota sich aufbäumende Bögen zusammengesteckt. An Wirbelsäulen erinnern sie. Die losen Stühle können schnell zu dem Amphitheater, in dem Momo wohnt, werden, oder zu einer Skulptur zusammengesteckt an die fröhliche Zeitverschwendung gemahnen. Oben an der Rückwand ist die Anzeige einer Digitaluhr projiziert, die im ersten Teil des Abends die Minuten rückwärts zählt.
Freude, Spaß und Spiel
Während des Einlasses tobt auf der Bühne eine ausgelassene Party. Die ganze Company trommelt und stampft einen Rhythmus auf ihren Körpern, den Stühlen, dem Boden. Gesellschaft in einem unschuldigen Urzustand, der nur aus Freude, Spaß und Spiel besteht. Aus lustvoller Verschwendung von Zeit. Es kann so nicht bleiben. Doch bis Simone Frederick Scacchetti als erster aller grauen Herren am ganzen Körper qualmend und gefährlich zuckend die Menschen in die gnadenlose Zeiteffizienz treibt, vergeht die Hälfte des Abends. Spota erzählt währenddessen vom Wesen der Freundschaft zwischen Momo, Gigi (Alessio Monforte) und Beppo (Georgios Michelakis), lässt Gigi den Knoten in seinem Herzen lösen und immer wieder sich Momos die gelbe Jacke überstreifen.
Die grauen Herren von der Zeitsparkasse
In der Mitte des Abends übernehmen dann die grauen Herren von der Zeitsparkasse das Regiment. Die Digitaluhr an der Wand beginnt verrückt zu spielen und nach und nach ziehen Tänzer*innen ihre Kleidung auf links. Helle Beige-Töne weichen einem tristen Anthrazit. Auch die gelbe Momo-Jacke ist nicht sicher, sie kann gewendet werden und gibt ihr dunkles Inneres preis. Der Kampf gegen die grauen Herren scheint verloren. Als düstere Masse Mensch hasten sie in einer rasanten Choreographie über die Bühne, immer auf der Suche nach den letzten Abtrünnigen, die noch assimiliert werden müssen. Die Schildkröte Kassiopeia ist die letzte Rettung. Pablo Navarro Muñoz tanzt sie. Ein Plastikstuhl als Panzer auf dem Rücken. Gegen ihre Zeitvergessenheit haben die grauen Herren kein Mittel und zerfallen zu Staub, der Bühnenboden wird zu einer grauen Hügellandschaft. Ganz am Ende steht das gesamte Ensemble am Bühnenrand und hält dem Publikum die gelben Jacken entgegen. Ziehe sich die Momo-Idee über, der sich berufen fühlt. Das ist ein sehr großes Bild, vielleicht ein etwas zu großes.
Tänzerisch hervorragend
Die Musik stammt von der isländischen Band Sigur Rós und ATMO – dem Tänzer Simone Donati und seinem Bruder Giulio Donati. Sphärische Klandlandschaften und pumpende Beats wechseln sich ab. Die gesamte Company zeigt sich tänzerisch hervorragend aufgestellt. Noch mehr als schon bei »Les Noces / Sacre« ist sie zusammengewachsen, wie sich besonders an Hitomi Kuhara aus der Compagnie von Bridget Breiner und den Eleven Hamilton Blomquist und Matthea Lára Persen zeigt. Marie-Louise Hertog, Chiara Rontini, und Simone Frederick Scacchetti ragen in ihren Einzel-Leistungen aus diesem Compangnie-Körper heraus.
Giuseppe Spotas Bewegungssprache ist anspruchsvoll und unbedingt zeitgenössisch. Für die grauen Herren bedient er sich an den unheimlichen Zuckungen, wie sie von Geistererscheinungen und Bessessene aus Horror-Filmen bekannt sind, in den Szenen zu zweit und zu dritt erfindet er immer wieder originelle Hebungen, die in ihrer schnellen Abfolge erstaunlich rundlaufen. Am stärksten ist seine Choreographie immer in der großen Gruppe, wo sie ihre ganze Energie entfalten kann.
Nicht stringent genug
Dass »Momo« in Gelsenkirchen noch nicht vollständig überzeugt, liegt an der unklaren Gesamtform. Für ein echtes Handlungsballett ist die Erzählung nicht stringent genug, andererseits erschließen sich manche Bilder und Szenen nur auf Grundlage des Romans. In der ersten Hälfte zerfällt der Abend trotz starker Einzelideen zu sehr in Episoden. Es wirkt, als wäre der Arbeitsprozess noch nicht ganz abgeschlossen. Als hätte sich Spota noch weiter von der Vorlage lösen müssen, auch vom Titel vielleicht, um nicht falsche Erwartungen an den Abend zu wecken. Andererseits ist verständlich, dass zunächst mit einer bekannten Geschichte das Publikum an die neue Company und ihren Leiter herangeführt werden soll. Das ist Marketing und dürfte aufgehen. Dann ist auch der Weg frei für den künstlerisch ganz runden Wurf.
Wieder am 8., 9., 16. und 29. Februar, 1., 15. und 29. März, https://musiktheater-im-revier.de